Die Albertina ist Österreichs meistbesuchtes Museum. Ein Großteil seiner Besucher frequentiert es wegen der Gewissheit, dass das Haus für ein kunstvolles Erlebnis unabhängig von der aktuellen Ausstellung steht. Anlässlich der Jubiläumsausstellung „Zwischen Dürer und Napoleon – Die Gründung der Albertina“, bei der rund 150 hochkarätige Meisterwerke präsentiert werden, sprach „Achtzig“ mit Direktor Klaus A. Schröder darüber, was einem Kunstwerk wirkliche Bedeutung verleiht, Selbstzweifel, den messbaren Erfolg von Museen und wenig gewichtige Kunstkritik.
Als Direktor der Albertina werden Sie täglich mit weltberühmten Kunstwerken konfrontiert. Alleine in der aktuellen Ausstellung sind etliche Kunstwerke vertreten, die in die Geschichte eingegangen sind. Was macht ein Kunstwerk wirklich bedeutend?
Die Bedeutung eines Kunstwerkes hängt meistens mit seiner Originalität zusammen. Es leistet etwas, das es so vor ihm nicht gegeben hat, und ändert unser Sehen und Empfinden. Nehmen wir Dürers Feldhasen – nach ihm war die Kunstgeschichte nicht mehr dieselbe. Vor Dürers Feldhasen ist die Kunst, im Sinne des Platonismus, in die Welt getreten, um diese zu verschönern. Bei Dürer war das anders, er erkannte die Welt als die beste in jener Form, wie Gott sie geschaffen hat. Der Künstler sollte gefälligst nur dem Vorbild Gottes folgen und die Welt als solche wiedergeben.
Anderes Beispiel: Nehmen wir das Schwarze Quadrat von Malewitsch. Es immer wieder zu malen ist simpel, es zum ersten Mal zu malen, auf den Nullpunkt der Kunst zu kommen, die Ikone auf ihre äußerste Geometriefläche zu reduzieren, war einmalig. In diesem Zusammenhang zitiere ich immer gerne einen Satz von Salvador Dali. Er meinte, dass der erste Mann, der zu seiner Frau sagte: „Deine Haut ist wie die Blüte einer Rose“, ein Genie war – der zweite hingegen ein Idiot. Diese Originalität, dieses Erstmalige teilt sich als Bedeutungszuwachs mit.
Wie wichtig ist handwerkliches Können, um ein bedeutendes Kunstwerk zu schaffen?
Eine weitere Dimension wächst einem Kunstwerk durch seine Ausstrahlung zu. Es gibt auch Künstler, die nicht die Bahnbrecher waren und in die Geschichte eingegangen sind. Raffael war hier das berühmteste Beispiel. Während Rubens die Kunst revolutioniert hat, hat er wenig Neues hinzugefügt. Was er aber gemacht hat, hat er auf der höchsten Ebene der Qualität verwirklicht und das mit tiefer Empfindung und Authentizität. Durch ihn kommt man auch leicht zur trivialen Ansicht, dass kein wirklich großes Kunstwerk schlampig oder schlecht gemacht ist. Wiewohl Virtuosität allein nicht genügt, ist Können trotzdem ein unveräußerlicher Bestandteil eines Meisterwerkes.
Braucht man einen Lehrmeister als Künstler, oder gar eine akademische Ausbildung?
Was ein Künstler braucht, oder nicht braucht, darüber erlaube ich mir nicht zu befinden. Er muss sich aushalten können, denn es ist sicher ein einsames Geschäft. Ich habe das große Privileg, viele große Künstler unserer Zeit persönlich zu kennen. Und einige der größten überhaupt, der vermögendsten, haben erstaunlicherweise auch die größten Selbstzweifel. Die ruhen schon in sich, sind aber voller Zweifel.
Ist es heute noch möglich ein Künstler vom Format eines Picasso, Rembrandt oder Cézanne zu werden? Einer der ganz Großen in der Kunstgeschichte?
Das denke ich schon. Ein großes Kunstwerk besitzt nämlich noch eine Qualität, die wir noch nicht angesprochen haben: Es verdichtet, wie unter einem Brennspiegel, seine Epoche. Auch unsere Epoche braucht ein oder mehrere Kunstwerke. Jede Zeit aber hat sich bei der Einschätzung ihrer großen Meister geirrt. Das 19. Jahrhundert ist besonders in die Irre gegangen. Ich glaube schon, dass wir heute mit Gerhard Richter und Anselm Kiefer Künstler haben, die im Stande sind, das Wesen unserer Epoche auf eine adäquate Weise höchster Qualität originär wiederzugeben.
Wenn Sie Ihr restliches Leben in einem „Zimmer“ gefangen wären, welches Bild würden Sie sich an die Wand hängen?
Naja, es wäre möglicherweise ein Gemälde Picassos aus den 1930er Jahren. Oder ein Manet aus den 1880er Jahren. Ich habe aber nicht vor, lange darüber nachzudenken, was ich im Gefängnis täte. Nur so viel: Ich hätte vermutlich andere Sorgen, als welches Bild meine Kerkerwand zieren sollte.
Die Albertina als einzelner Standort ist das meistbesuchte Museum Österreichs. Braucht Kunst und Kultur Quote?
Ich weiß nicht, ob der Ausdruck Quote der glücklichste ist, weil er missbraucht und sehr stark vom Fernsehen besetzt ist. Wir haben eine andere Terminologie: die gesellschaftliche Relevanz. An ihr kann man nicht vorbeigehen, und diese wird an der Kassa gezählt. Es hat keinen Sinn und ist blauäugig zu sagen: „Die Ausstellung, die ich gemacht habe, ist außergewöhnlich relevant und hat die Menschen bereichert“ – nur niemand ist hingegangen.
Was sagen Besucherzahlen über den „Erfolg“ oder die „Qualität“ einer Ausstellung oder eines öffentlichen Kunstbetriebes aus?
Besucherzahlen sind eine wichtige Messlatte. Nicht aber für die Kunst selbst. Ein Museumsdirektor ist ein Kunstvermittler. Ich kann mich daran messen lassen, ob ich mein Publikum erreiche. Der Künstler muss sich daran messen lassen, ob er der Geschichte standhält – und nicht, ob er in dem Augenblick von einem simplen Geist wie mir verstanden wird.
Was bedeuten geringe Besucherzahlen für eine öffentliche Kunst- und Kultureinrichtung?
Eine geringe gesellschaftliche Relevanz. Das ist so. Es hat keinen Sinn, das anders zu definieren. Wenn ja, könnte ich dann nur behaupten, es zählt nicht, dass Menschen bereichert werden. Dies ist auch Teil der Selbstbeschreibung vieler freier Kuratoren, die sagen, was sie machen, machen sie nur für sich selbst. Das ist ein tapferer Satz, den die wenigsten Maler und Anstreicher oder Installateure unterschreiben würden. Auch Taxifahrer machen ihre Arbeit nicht für sich. Auch ein Zahnarzt macht die Arbeit nicht für sich, sondern für seine Kunden. Gott sei Dank, sag ich da nur. In der Kultur ist es aber eine Art Selbstlegitimationsstrategie zu sagen: Das macht man für sich! Und diese Haltung kann natürlich nur dann wehrhaft verteidigt werden, wenn man die Wahrnehmung durch Dritte als irrelevant abtut. Das tue ich nicht.
Wo sollte Kunstvermittlung in unserer Gesellschaft generell beginnen? Bereits in der Grundschule? Im Elternhaus?
Im Elternhaus werde ich nicht sagen. Das wäre unüberlegt und zynisch: „Kunstvermittlung soll im Elternhaus beginnen. Und alle Immigranten, die nun endlich ihr Leben gerettet haben, sollen gefälligst dafür sorgen, dass ihre Kinder mit Kultur versorgt werden!“ Da würde ich wahrscheinlich Schwierigkeiten kriegen. Und vermutlich wird es auch bei einem Stahlkocher nicht gut ankommen, wenn ich ihm sage, dass das Elternhaus dafür verantwortlich ist, dass sein Sohn Französisch lernt, ein Bild richtig datieren kann und Bach spielt. Das hat keinen Sinn. Dort aber, wo es möglich ist und das finanzielle Umfeld stimmt, dort, wo die Familien eine gewisse Bildung mitgeben können, haben sie schon die verdammte Pflicht dazu. Die nächste Instanz ist dann jene, die der Staat zu Verfügung stellt. Durch Kindergärten und Schulen. Das war früher schon schlecht, und ist heute noch schlechter. Also treten nur wir, die Museen, auf verlorenem Posten, auf den Plan. Denn wir setzen erst sehr spät an. Dafür aber erreichen heutzutage Museen so viele Menschen wie noch nie in der Geschichte.
Sie selbst waren in jungen Jahren Herausgeber einer Kunstzeitung. Erhalten Kunst und Kultur in österreichischen Tageszeitungen genügend Aufmerksamkeit?
Nein. Vor allem nicht in den sogenannten Meinungsmacher-Medien. Und das, was in Deutschland die FAZ, die Süddeutsche oder die Welt ist, haben wir gar nicht. Alleine in der bildenden Kunst haben diese Zeitungen fünf oder sieben Redakteure, damit ein Redakteur nicht damit überfordert ist, über verschiedene Ausstellungen unterschiedlicher Sparten in den unterschiedlichsten Institutionen berichten zu müssen. Man muss sich Folgendes vorstellen: Wir arbeiten nun drei Jahre an der aktuellen Ausstellung. Da arbeitet ein Team von 15 Kuratoren, alles Spezialisten. Ein österreichischer Kunstkritiker hingegen besucht die Ausstellung an einem Tag, hört sich an, was geredet wird, rast dann in die Redaktion, hebt dort den Katalog, um ihn nach seinem Gewicht zu beurteilen, und ein bis zwei Stunden später ist die Rezension in die Maschine gehämmert. Das kann nicht gewichtig sein und kann die Sache nicht wiedergeben. Und wer das glaubt, ist anmaßend. In hellen Stunden weiß das vermutlich jeder Redakteur. In der Süddeutschen zum Beispiel erscheint nicht am nächsten Tag die Rezension, dort erscheint sie eine Woche später. Bei uns sieht der Kritiker in der aktuellen Ausstellung das Silber zum ersten Mal, mit einem Portrait, das er noch nie gesehen hat. Und im nächsten Augenblick soll er ein Urteil abgeben. Wiedergeben, was er gesehen hat, will er nicht, er will urteilen, wenn geht verurteilen. Der Vorteil ist: Wenn man das weiß, nimmt man eine solche Kritik nicht tragisch. Ist zwar traurig, aber werde ich es ändern? Nein.
Text: Stefan Zavernik