Bim-Gebimmle und lautstarkes Stimmengewirr in einer Betonwüste mit architektonisch-historischem Hintergrund-Ensemble. So fühlt sich der Grazer Hauptplatz für mich im Alltag an. Nicht so während des steirischen herbst.
2007 – begehbares Archiv
Das Künstlerduo plan B tritt wieder auf den Spielplan des steirischen herbst. Dem Publikum ist es seit 2007 bekannt, als Sophie New & Daniel Belasco Rogers den Grazer Innenstadtraum mit Geschichten neu belebt haben. Mit einer GPS Audio-Tour durch 40 Jahre Kunst auf den Straßen von Graz. Was sich seit Beginn des Festivals 1967 an Performances und Interventionen im öffentlichen Raum verankert hat, aber längst nicht mehr sichtbar war, machten sie hörbar. Mit Kommentaren von zufälligen Beobachtern und vom Stamm-Publikum, Originalaufnahmen der ORF-Berichterstattung, Tonmaterial aus dem herbst-Archiv, Stimmungsbildern von Künstlern und Intendanten re-lokalisieren sie bis zu 100 Projekte aus den vergangene 48 Jahren des Festivals für zeitgenössischer Kunst an ihren ursprünglichen Ausgangsorten.
Klingt gut, wenn ich ein Stück der Stadtgeschichte nachhören kann. Wer erinnert sich schon noch daran, dass Slava Mizin 2001 aus seiner Hose eine Rakete geschossen hat? Und durch die Rückkoppelung an den Ort des Entstehens – die Interviews werden immer am Originalschauplatz aufgenommen – entsteht eine ganz eigenwillige Energie. Daniel Belasco Rogers beschreibt diese so: „Die Leute sind zuerst ganz schüchtern und meinen, sie erinnern sich nicht. Dann stehen sie am Platz, wo sie mit dem steirischen herbst in Berührung gekommen sind und plötzlich sprudelt es nur so aus der Erinnerung hervor“. Die Lust der ehemals beteiligten Personen sich mitzuteilen, Erinnerung zu teilen, hört und spürt man als durch die Stadt-Wandlerin.
2015 – Back to the Future
Und weil das diesjährige Thema Back to the Future ist, hat man das Künstlerduo wieder eingeladen. Was sie mit im Gepäck haben, ist eine moderne und gepimpte Version ihres Projekts aus 2007. Statt der GPS-Geräte – die waren 2007 noch mit sperrigen Akkus ausgestattet und ein wenig unpraktisch zu bedienen – gibt es jetzt noch mehr Geschichten to go. Und die Bedienung über die neue „herbst-fragmente“-App unkompliziert und schnell. (Achtung: Ausprobieren macht süchtig, vorab sollte man aber mal seine „Fotoalbem löschen“, meinte der Künstler Daniel Belasco Rogers lachend, denn „die App braucht schon eine ordentlich große Menge an Speicherplatz“.) Mit der App in der Tasche, also am Smartphone oder am Tablet, kann es schon losgGEHEN.
150 tonSPUREN zum Nachspüren
Am Hauptplatz höre ich statt Gebimmle der Bim ein Sammelsurium an Meinungen und Kommentaren zu vielen Projekten, die im Rahmen des steirischen herbst dort verwirklicht wurden und ich BISHER noch nicht gesehen habe. plan b legt mir einen Erinnerungsteppich zu Füßen, wenn ich staunend durch die Straßen ziehe.
Erster Halt: Hauptplatz. Manfred Goger, der Barkeeper der Ernst-Fuchs-Bar erzählt von den guten alten Tagen. Als er sich nach der Eröffnung des steirischen herbst immer einen Tag freinehmen musste, weil am Abend der Eröffnung Bauer und Schlick in der Bar – natürlich mit einer ganzen Gefolgschaft im Schlepptau – vorbeigeschaut haben und nicht vor 4 oder 5 Uhr in der Früh Ruhe gaben. Erika Lackner erzählt aus der Sicht einer Passantin von der Eröffnung 1979, als es geheißen hat, am Hauptplatz gäbe es ein Konzert. Aber stattdessen sollten plötzlich die Zuschauer singen und das taten sie dann auch. „Das war wie ein Ritual, das nur einmal passiert. Davon gibt es auch nur mündliche Überlieferungen.“ Irgendwie sei das schon was Besonderes. In der Herrengasse erzählt Paul Hartfleet über sein Projekt 2012. Er hat einen Pflasterstein entfernt und ein Stiefmütterchen gepflanzt. Einen Tag später war das zarte Pflänzchen rein säuberlich entfernt und der Stein wieder an seinem ursprünglichen Standort. Irgendwie symbolisch für die 2012 (…) vorherrschende „strukturierte Homophobie“ im Kontext der Stadtregierung, meint der Künstler im Interview.
Am Eisernen Tor 3 erzählt eine Anrainerin über Hans Haackes künstlerische Intervention an der Mariensäule als Zeichen gegen die nationalsozialistischen Zeit. Und den zerstörerischen Akt der Zerstörung, die eine Gruppe an Neo-Nazis durch in Brandsetzung der Skulptur gesetzt haben. Der Anrainerin blieben nur verkohlte Fragmente der Marienstatue
Interessant, aber eh allen klar?
Hotspots für steirische-herbst Aktionen waren immer schon der Hauptplatz und der Stadtpark (Tipp: Dort ist ein unterhaltsam-trockener ORF-Beitrag von Werner Fenz im Original zu hören); auch der Marienplatz. In den letzten Jahren der Karmeliterplatz.
Keine Zeit, keine Ausrede
Und wer meint, für 150 Tonspuren hätte er oder sie schon gar keine Zeit, dem sei gesagt: Die App kann man jederzeit downloaden und von überall auf der Welt die über 10 Stunden Tonmaterial nachhören, Bilder ansehen und sich ein Bild vom steirischen herbst und vor allem von Graz machen.
Mit keiner anderen Stadt hat sich das aus deutsch-englische Künstlerpaar so intensiv und langjährig beschäftigt. „Wir haben Spaß, wenn wir einen Kommentar zu einem Kunstwerk hören, das wir auch selbst in Graz gesehen haben, wie zum Beispiel, zu Kaltwasser & Köbberlings Projekt F für Fußgänger – einer Aktion zur Umwandlung eines Autos in zwei Fahrräder am ehemaligen Fischplatz“, schwärmt Sophie New.
Wer wirklich etwas über die Stadt erfahren will, drückt in diesem Moment den Download-Button für die „herbst-Fragmente“-App. In Graz oder sonst wo…
natalie resch