Ernst M. Binders Hänsel und Gretel sind Flüchtlingskinder, getrieben vom Überlebenswillen und der Hoffnung nach einem menschenwürdigen Leben in Europa. „Achtzig“ traf den Regisseur zum Interview über das Musiktheater im MUMUTH und die Rolle des Künstlers. Gibt es ein Happy End außerhalb des Märchens?
Text: Natalie Resch
Wie sind Sie auf den Stoff gestoßen und warum hat gerade dieser Sie fasziniert?
Die Inszenierung wurde mir von der Kunstuniversität Graz angeboten, obwohl ich bekannt dafür bin, ausschließlich zeitgenössische Opern und Theatertexte zu inszenieren. In erster Linie habe ich das Angebot angenommen, weil ich denke, auf diesem Weg zumindest einige Eltern und ihre Kinder zum Nachdenken und zur Auseinandersetzung mit diesem zurzeit alles beherrschenden Thema „Migration“ bringen zu können. Das betrifft ja alle Bereiche unseres Lebens, nicht nur den politischen Alltag, der gerade heute seine schmutzige, unmenschliche Seite offenbart. Damit dürfen wir uns nicht abfinden.
Der Stoff wurde für Kinderopern vielfach interpretiert. Mit welchen Aspekten des Stoffes setzen Sie sich in Ihrer Inszenierung auseinander? Das Hinausschicken in die weite Welt für ein besseres Leben ist ja schon im Originalstoff angelegt.
Es geht ja nicht um das Hinausschicken in die weite Welt für ein besseres Leben. Das mögen die unverantwortlichen und „verhetzerischen“ Parolen der Populisten verbreiten. Es geht in erster Linie darum, wie kann man überleben? Wie verzweifelt muss eine Mutter sein, ihre Kinder auszusetzen, weil sie keine Möglichkeit sieht, sie zu beschützen.
Ich lasse die Geschichte in Griechenland beginnen. Nach der Irrfahrt über das Meer sind Hänsel und Gretel in Idomeni gestrandet, einer unwirtlichen Gegend an der unüberwindlichen Grenze zu Mazedonien. Sie campieren auf einem Müllplatz, zwischen all dem Abfall unserer Überflusswelt. In der Ferne, hinter dem Grenzzaun, in der Mitte des Waldes, sehen sie als Fata Morgana die Verheißung eines besseren Lebens: einen geschmückten Christbaum, Symbol der christlichen Nächstenliebe und eines Lebens in Wohlstand.
Sie beschäftigen sich intensiv mit dem Thema der Flucht, des Ankommens – wie schon im Stück Jarmuk. Sehen Sie es als Aufgabe der Kunst, gesellschaftsrelevante Themen einer breiten Bevölkerung zugänglich zu machen? In welcher Form kann Kunst das Menschliche in Solidargemeinschaften stärken?
Ich vertrete die unbedingte Haltung, dass Kunst nur sich selber verantwortlich ist und dem Menschsein. Aber die Beschäftigung mit Kunst macht aus uns noch keine besseren Menschen, wohl aber kann sie das Bewusstsein für die Möglichkeiten eines friedvollen und respektvollen Miteinanders sensibilisieren.
Sie sagen, ein Happy End ist nur möglich, weil es sich um ein Märchen handelt. Sehen Sie die Zukunft so düster?
Ich sehe die Zukunft weder düster noch besonders rosig. Ein „Happy End“ ist für Hänsel und Gretel nur im Märchen möglich, weil in unserer Wirklichkeit für Millionen Kinder auf dieser Erde ein Leben in Frieden und Freiheit keine Option ist. Aber ich bin der unbedingten Meinung, dass sich dafür zu kämpfen lohnt.
Märchen werden oft als grausam bezeichnet, nicht kindertauglich. Was halten Sie prinzipiell von Märchen?
Ich erzähle die Geschichte sehr spielerisch. Diese Oper ist ja ein Wunderwerk an schönen Melodien. Hänsel und Gretel erleben die Konfrontation mit unserer „schönen neuen Welt“ im Traum. Und im Traum stellt sich wie im Märchen die Realität so übersteigert dar, dass wir nicht umhin können, sie als unsere Wirklichkeit ganz klar und kristallin zu erkennen. Dieser Widerspruch reizt mich an dieser Arbeit.
Was erwartet das Publikum beim Musiktheater? Denken Sie an ein junges Publikum oder ist Ihre Inszenierung alterslos?
Ich hoffe, dass mir und meinem Team ein Abend gelingt, der zum Nachdenken anregt, aber gleichzeitig das Wunder unseres Lebens preist. Wenn etwa Richard Strauss in einem Brief an Humperdinck sich bei diesem für die Freude bedankt, die ihm dieses Werk beschert hat, so möchte ich mich dem anschließen. Durch die Schönheit der Musik wird die Traurigkeit über das Schicksal der beiden erträglich. Anteilnahme und Demut sind die Voraussetzung für ein erfülltes Leben. Für Kinder wie für Erwachsene.
Sie interessiert die gesellschaftspolitische Dimension dieser Oper. Sie meinen, auch Kinder mit dieser „Deutung unserer Wirklichkeit konfrontieren zu können”. Wie hält man die Balance zwischen der Realität, die Kindern zumutbar ist, und jener, die sie überfordern könnte?
Die Eltern sind gefordert, in einen Dialog mit ihren Kindern zu treten; so wie der Künstler in einen Dialog mit den Menschen tritt. So lange wir die Gelegenheit haben, unseren Kindern die Wahrheit in einer Weise zuzumuten, die sie weder seelisch noch körperlich verletzt, müssen wir die Gelegenheit wahrnehmen. Sonst werden sie mit dieser „Wahrheit“ von geistiger und seelischer Verwahrlosung auf ganz brutale Art konfrontiert werden, der wir zurzeit in Form von Hasspostings begegnen. Hier ist eine klare Haltung und Abgrenzung ein Gebot der Stunde. Und die erreicht man nicht durch Verharmlosung oder Verschweigen.
Eine Frage an Sie als Lehrenden an der Kunstuniversität Graz: Was muss von den Studierenden gefordert werden, um sie auf die Realität vorzubereiten?
Ich versuche, meinen Kompositionsstudierenden von dem zu erzählen, was mich in meinem Leben berührt und geprägt hat. Ob das nun die großen Dichter, Musiker, Maler sind oder große Persönlichkeiten der Geschichte: Sie haben mein Leben erträglich gemacht. Ich habe meiner ersten Vorlesung über die Voraussetzung, einen Gedanken fassen zu dürfen, folgenden Satz vorangestellt: „Das ist das Gesetz: Ich bin verantwortlich dafür, was Menschen je Menschen angetan haben, antun und antun werden.“ Das mag sehr moralisch klingen, ist aber genau der Ansatzpunkt, der aus meiner Sicht einem Kunstwerk zugrunde liegen soll.
Haben Sie Angst vor einer zunehmenden Radikalisierung? Wie schützt man sich selbst davor?
Wir dürfen diese Welt nicht den Hasspredigern überlassen. Es gibt kein persönliches Glück, wenn wir nicht lernen, es mit anderen zu teilen. In den Proben begegne ich Tag für Tag so tollen jungen Menschen, die ihre ganze Energie und Kraft dafür einsetzen, Menschen Freude zu bereiten, dass mir nicht bang ist um unsere Zukunft. Es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass ich gelernt habe, dieses Geschenk anzunehmen und weiterzugeben.
Musiktheater Hänsel und Gretel*
Sa, 28.; Mo, 30. Jänner & Mi 1. Februar 2017, 19 Uhr
MUMUTH, György-Ligeti-Saal,
Leonhardstraße 15, 8010 Graz
www.kug.ac.at
MUMUTH Lounge für Sangesfreudige
18.15 Uhr
Opernfrühstück
22. Jänner 2017, 11.00 Uhr, MUMUTH
Ernst M. Binder im Gespräch mit Sieglinde Roth
*Diese Produktion ist Teil von abo@MUMUTH