Leuchtend rot heben sie sich von den dunklen Wänden ab, demonstrativ widersetzen sie sich in lebensnahen Posen ihrer Vergänglichkeit: In den Körperwelten Gunther von Hagens’ fahren die Toten Fahrrad, treiben Sport und spielen E-Gitarre.
Still ist es, man könnte eine Stecknadel zu Boden fallen hören. Ehrfürchtig stehen die Besucher vor den Exponaten und staunen. Doch diese Ausstellung ist keine im herkömmlichen Sinn. Denn die hier gezeigten Kunstwerke sind menschliche Körper. Die plastinierten Leichen polarisieren schon seit Anbeginn der Ausstellungsserie im Jahr 1995. Kritiker sehen in ihnen die Würde des Menschen verletzt, andere wiederum sind von ihrer Echtheit fasziniert. Mehr als 44 Millionen Menschen haben die Körperwelten bisher weltweit besucht.
Selbstbetrachtung ohne Spiegel
Die umstrittene Schau will kein Friedhof sein. Als oberstes Ziel sehen die Macher die gesundheitliche Aufklärung. Das Bewusstsein soll geschärft, die Grenzen des Körpers aufgezeigt und die Frage nach der Bedeutung des Menschseins angeregt werden. „Wir zeigen das Leben auf dem Hintergrund des Todes“, betont der Philosoph Franz-Josef Wetz.
Daher auch die lebensnahen Posen. Sie ermöglichen es dem Besucher, sich besser mit den Plastinaten zu identifizieren. Das geht unter die Haut und das soll es auch. Denn die Begegnung mit dem Tod soll zur Reflexion über die eigene Lebensweise animieren. „Wir achten unsere Autos und unsere Möbel, aber oft nicht unseren Körper, weil er selbstverständlich ist“, fährt Wetz fort. „Das Altern ist abhängig davon, wie wir mit unserem Körper umgehen. Was immer wir tun, wirkt lebenslang auf ihn zurück“, erläutert Kuratorin Angelina Whalley. Wenn auch jedes Leben ein Ablaufdatum habe, liege es an uns selbst, so gesund wie möglich älter zu werden. „Unser Körper ist eine lebenslange Aufgabe.“
Schonungslose Aufklärung
200 Präparate, davon 20 ganze Körper, zahlreiche Organe und durchsichtige Körperscheiben sind noch bis zum 10. September in der Messe Graz Halle A zu sehen. Unter dem Titel „Körperwelten und der Zyklus des Lebens“ kann man den menschlichen Körper im Wandel der Zeit betrachten. Wie wir wachsen, reifen, mit etwa 25 Jahren unseren Leistungshöhepunkt erreichen und dann wieder schwächer werden.
Die Sammlung plastinierter Embryos und Föten veranschaulicht die Entwicklungsstadien der Befruchtung bis zur Geburt. Wer sich diesen Bereich nicht anschauen möchte, kann ihn über eine Abzweigung umgehen. Körperfunktionen sowie häufige Erkrankungen werden im Vergleich gesunder und kranker Organe erklärt. Schonungslos sind die Auswirkungen von Suchtgewohnheiten zu sehen. So liegt eine gesunde, weiße Lunge neben einem Paar tiefschwarzer Lungenflügel. Anbei eine Kaffeetasse voll Ruß, welche jener Menge entspricht, die ein Raucher mit vier täglichen Zigaretten pro Jahr inhaliert. Eine gelbe, in sich zusammengeschrumpfte Leber demonstriert die Folgen jahrelangen Alkoholkonsums. Transparente Körperscheiben zeigen die Tumorausbreitung eines Melanoms.
Wissensvermittlung
Die einzigartige Ausstellung betrachtet sich als ein Ort anatomischer Wissensvermittlung. „Die Anatomie soll nicht länger ein Vorbehaltsgut von Experten sein“, so Whalley. Funktionen des menschlichen Körpers sollen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich werden. Darauf habe man auch als Laie ein Recht.
Zwischen den Plastinaten findet man daher zahlreiche Informationstafeln, die komplizierte medizinische Themen näherbringen. Eine Fotogalerie mit den Bildern von „Über-Hundertjährigen“ gibt Ratschläge für gesunde Lebensweisen. Die abgebildeten Personen wohnen in Gegenden, wo man überdurchschnittlich alt wird – von Japan bis Sardinien. Auch Künstler haben in der Ausstellung Platz. Computersimulationen zeigen, wie der impressionistische Maler Claude Monet die Welt sah, nachdem er am grauen Star erkrankt war. Auf großflächigen Tafeln wird der Plastinationsvorgang erklärt. Das 1997 von Gunther von Hagens erfundene Verfahren stoppt Verwesung und Vertrocknung vollkommen und ermöglicht die Herstellung langfristig haltbarer, anatomischer Präparate. Dem Körper werden dabei sämtliche Flüssigkeiten und löslichen Fette entzogen. Die Herstellung eines Plastinats kann bis zu 1,5 Jahre in Anspruch nehmen.
Warum man seinen Körper spendet
Die Ausstellung wäre freilich nicht möglich ohne Menschen, die nach dem Ableben ihren Körper zur Plastination freigeben. 20.000 haben das bereits gemacht. Einer von ihnen ist der 47-jährige Wiener Benjamin Amar. Er hat den Willensvertrag 1999 unterschrieben. „Die meisten Menschen machen sich erst Gedanken über den Tod, wenn sie damit konfrontiert werden. Ich wollte nie begraben werden und dass sich jemand um mein Grab kümmern muss. Wichtig war mir, dass etwas von mir erhalten bleibt. Wenn es der Lehre dient, ist es doppelt gut“, erklärt er.
Auch sein Partner geht gelassen mit der Tatsache um, dass es keine Grabstätte geben wird. „Man muss die schönen Sachen im Herzen bewahren. Das ist viel wichtiger als ein Grabstein“, sagt Amar. Nebenbei sei das Begrabenwerden heutzutage auch ein Kostenfaktor. „Ich weiß, dass die Seele auch so weiterlebt.“
Umgang mit Kritik
Seit Jahren stehen die Körperwelten im Kreuzfeuer der Kritik. Auch in Graz gab es ablehnende Stimmen vor der Eröffnung. Durch das Zur-Schau-Stellen der Toten würde die Menschenwürde verletzt, lautete ein häufiges Argument. „Achtet man einen toten Körper mehr, wenn man in verbrennt oder den Würmern vorwirft?“, fragt Wetz. Die Antwort muss jeder für sich selbst finden. Besucherumfragen jedenfalls sprechen für einen positiven Effekt. Ein halbes Jahr nach der Ausstellung haben 9 % der Besucher das Rauchen aufgegeben, 33 % ernähren sich gesünder und 25 % sind sportlich aktiver als zuvor.
Körperwelten & der Zyklus des Lebens: 2.6.–10.9., Messe Graz, Halle A
Öffnungszeiten: Mo–Fr, 9–18 Uhr, Sa, So und Feiertag, 10–18 Uhr
Tickets: www.oeticket.com, b2b@oeticket.com,
Tel. 01 960 963 00 sowie an der Tageskasse; Preise: Erwachsene € 19,–; Kinder & Jugendliche (bis 18 Jahre) € 13,–; Studenten & ermäßigt € 15,–; Schulklassen € 7,–; jeden Montag 2 Studenten € 15,– / keine Altersgrenzen