Die freien Theater sind ein wichtiger Teil der Grazer Theaterlandschaft: Sie experimentieren mit innovativen Spielformen, beleben öffentliche Räume, führen interkulturelle Dialoge und konfrontieren die Zuschauer mit brennenden Themen. Ein Überblick.
Text: Julia Braunecker
Unabhängigkeit. Nicht unterdrückt sein. Tun, was man für richtig hält. Was das Wörterbuch über die Freiheit zu sagen hat, trifft auch auf die Eigenschaften der freien Theaterszene in Graz zu. Denn deren Künstler scheuen sich nicht davor, Impulse zu setzen und weltbewegende Themen aufzugreifen. Die Steiermark beherbergt nicht nur die zweitgrößte Stadt Österreichs, sondern nach Wien auch die zweitgrößte freie Theaterszene des Landes. Über 25 aktive Institutionen prägen das bunte Bild, dessen Vielfalt von Kindertheater, Nachwuchsförderung, Kleinkunst, politischem Theater bis hin zu großen Kooperationen mit dem Schauspielhaus reicht. „Wir präsentieren Themen, die uns unter den Fingernägeln brennen“, berichtet Katharina Dilena von der Interessenvertretung „Das Andere Theater“. „Durch das freie Arbeiten haben wir den Vorteil, dass wir spontan und innovativ sein können. So befinden wir uns immer am Puls der Zeit.“
Wegbereiter der freien Szene
Das „Theater im Keller“ gilt als das erste freie Theater Mitteleuropas und als Urgestein der freien Theaterszene in Graz. „Wir haben eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet“, bemerkt Alfred Haidacher stolz. Ihm obliegt die künstlerische Leitung und Koordination. Gegründet wurde die geschichtsträchtige Spielstätte nach Kriegsende im Jahr 1951 aus einer Gemeinschaft von jungen Menschen, die sich schauspielerisch mit zeitgemäßen Themen auseinandersetzten. In der Jugendgruppe können sich Nachwuchstalente auch heute ausprobieren. Die Teilnahme ist kostenlos und auf zwei Jahre begrenzt. Das TIK experimentiert gerne mit neuen Texten und bezeichnet sich als ein Theater der Möglichkeiten, das Unbekanntes und zu kurz Gekommenes aus dem Schatten holt. „Wir arbeiten mit Autoren zusammen, die neue Sichtweisen schaffen,“ erklärt Haidacher. „Der Ursprung vieler Karrieren liegt innerhalb unserer vier Wände,“ ergänzt er. So spielte etwa Martin Kušej, Direktor des Wiener Burgtheaters, zu Beginn seiner Laufbahn im TIK.
Edith Draxl war einst Vorstandsmitglied. Sie leitet heute ihre eigene Talenteschmiede: UniT, den Verein für Kultur an der Karl-Franzens-Universität. Das zweijährige Förderprogramm FORUM TEXT und der Retzhofer Dramapreis sorgen für die Sichtbarkeit zeitgenössischer, dramatischer Texte. Die aus dem DRAMAFORUM hervorgegangenen jungen Autoren sind längst überregional erfolgreich. So arbeitete etwa Christian Winkler 2014 an einer mehrteiligen Soap für das Hamburger Thalia-Theater. Nachwuchsdramatiker Ferdinand Schmalz macht mit Stücken wie „Am Beispiel der Butter“ im deutschsprachigen Raum auf sich aufmerksam und ist der Gewinner des diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preises.
Kinder und Jugend
Zu den Pionieren der freien Szene zählt auch das bald dreißigjährige MEZZANIN-Theater unter der Leitung von Martina Kolbinger und Hanni Westphal, das sich als Theater für „junge Menschen und solche, die jung geblieben sind“ einen Namen gemacht hat. „Wir haben immer für den Stellenwert des Kindertheaters gekämpft“, erzählt Martina Kolbinger. Seit vielen Jahren arbeitet das Haus auch mit beeinträchtigten Menschen zusammen. „Diese Menschen bringen ein unheimliches Potenzial mit, sie stehen gerne auf der Bühne. Aus der Zusammenarbeit mit ihnen entstehen kraftvolle und ausdrucksstarke Inszenierungen“, erläutert Kolbinger. „Unabhängig vom künstlerischen Ergebnis machen sie große persönliche Fortschritte.“
Stolz berichtet sie über internationale Erfolge. „Wir gehen mit unserem Ensemble auch auf Tournee und waren sogar schon in Südkorea unterwegs.“ Ganze 100 Vorstellungen spielt das MEZZANIN-Theater pro Jahr. Der Nachwuchs liegt auch Manfred Weissensteiner am Herzen. In seinem 1992 gegründeten Theater am Ortweinplatz (TaO!) bietet er ein vielfältiges theaterpädagogisches Angebot für Kinder und Jugendliche. Das TaO! organisiert in Zusammenarbeit mit dem Mezzanin Theater das „spleen*graz“, ein internationales Theaterfestival für ein junges Publikum, das alle zwei Jahre im Februar stattfindet.
Einblicke in verschiedene Mentalitäten
Ein weiterer Fixstern am Grazer Theaterhimmel ist das legendäre „Theater im Bahnhof“, das nach eigenen Angaben größte professionelle freie Theaterensemble Österreichs. „Uns gibt es schon ewig“, schmunzelt die Schauspielerin Eva Maria Hofer. Der Name des Ensembles bezieht sich auf den Jugendwarteraum des Hauptbahnhofs, wo sich die Gründungsmitglieder einst kennenlernten. „Wir hinterfragen die österreichische Seele und wollen die Zuschauer dort erwischen, wo sie es nicht erwarten.“ Die Stücke würden immer einen Bezug zur aktuellen Situation herstellen. Vorstellungen finden meistens an ungewöhnlichen Orten statt, wie etwa einem türkischen Hochzeitspalast oder mitten in einem Einkaufszentrum. „Durch die große Anzahl unserer Mitglieder ergibt sich eine Vielzahl an Ideen. Wir versuchen viele dieser Inputs zu respektieren und zu nutzen“, erklärt Hofer. Nennenswerte Auseinandersetzungen gäbe es trotz der Größe keine, schließlich kenne sich die Gruppe schon ewig. „Dadurch, dass wir uns so gut kennen, unterstellte man uns früher etwas Kommunenartiges “, lacht sie. War man einst ein enges Kollektiv, sind heute einige Mitglieder wie Pia Hierzegger oder Michael Ostrowski auch im Filmgeschäft sehr erfolgreich. Viel Mut beweist die Theater- und Kulturinitiative InterACT, die seit 1999 politische und interaktive Stücke entwickelt. „Wir greifen heiße und tabuisierte Themen auf und eröffnen einen spielerischen Zugang zu ihnen. Dadurch machen wir Ohnmacht und Unterdrückung im gesellschaftlichen Alltag bewusst“, erklärt der Soziologe und Theaterpädagoge Michael Wrentschur.
Theatervielfalt im Kristallwerk
Ob ihres vielfältigen Angebotes ist die freie Szene aus der Grazer Theaterlandschaft nicht mehr wegzudenken. Herausforderungen sind dennoch allgegenwärtig, denn Freiheit bedeutet nicht nur Unabhängigkeit, sondern auch das Zittern um Subventionen und feste Arbeitsverträge. „Eine große Szene bedeutet auch große Verantwortung. Wenn man Vielfalt will, muss man etwas dafür tun“, appelliert Haidacher an die Politik und erzählt von inneren Konkurrenzkämpfen und der Herausforderung, sich in das immer größer werdende Spielangebot einzugliedern. Katharina Dilena sieht Handlungsbedarf bei der Sichtbarkeit des freien Theaters. Die frühere Möglichkeit, Dreieck-Plakatständer ermäßigt anzumieten, gibt es nicht mehr. Werbeflächen an attraktiven Orten wären wünschenswert. Ein großer Gewinn sei das Kristallwerk, eine Bühne, die offiziell und ohne Mietkosten von Mitgliedern des Vereins „Das andere Theater“ bespielt werden kann. Für Nichtmitglieder gibt es eine Mietpreisstaffelung nach Subventionshöhe. Um die 25 Theaterproduktionen von unabhängigen Ensembles gehen hier pro Jahr über die Bühne. An diesem in Österreich einzigartigen Spielort hat die freie Szene letztes Jahr ihr wohlverdientes Zuhause gefunden.