Nach dem letztjährigen Publikumserfolg der großformatigen Produktion Cirkopolis zeigt der Cirque Noël erstmals zeitgleich zwei höchst unterschiedliche Produktionen: „A Simple Space“ der jungen australischen Gruppe Gravity & Other Myths und „Réversible“ der kanadischen Erfolgscompagnie The 7 Fingers. Werner Schrempf verrät die Hintergründe, Details zu Aufführungen und erzählt von Zelten im Winter mit temporären Fernwärmeanschlüssen.
Text: Natalie Resch
Ab 18. Dezember zeigt das Festival Cirque Noël neuen Zirkus in der Helmut List Halle und im Orpheum Graz. Was zeichnet „A Simple Space“ der Compagnie Gravity & Other Myths aus, mit dem der Reigen beginnt?
Beide Produktionen sind ganz nah beim Publikum. Das ist der Grund, warum sie zusammen gezeigt werden. Bei A Simple Space ist die Nähe zu den Zuschauern besonders faszinierend. Schon mit ihrem Namen stellt die Gruppe die Gravitation grundsätzlich in Frage. Und es ist schön, dabei zu sein, wenn sie dann miteinander die Schwerkraft wirklich auflösen. Nach dem Besuch des Stückes fühlt man sich ein wenig leichter als vorher. Man hat das Gefühl, dem Alltag – wenn auch auf zwei Beinen – zumindest ein bisschen entfliehen und mutig Neues wagen zu können.
Welche Rolle spielt der Raum im zeitgenössischen Zirkus?
Der ist beim Zirkus sehr wichtig. Es ist schön, die verschiedenen Entwicklungen zu erleben. Das eine ist der Urzirkus, der immer mitten drin war zwischen den Menschen, bei dem die Besucher gegenübersitzend die Emotionen der anderen wahrnehmen. Beim Cirque Noël versuchen wir, diese besondere Atmosphäre in Häuser zu bringen. In diesem Jahr wird der Publikumsraum in der Helmut List Halle so um- und aufgebaut, dass das Publikum der Bühne näher ist. Im Orpheum wird die Bühne in den Zuschauerraum hineinragen, Sitze werden auch seitlich positioniert. Zwar haben dann an beiden Spielorten weniger Personen Platz als normalerweise, aber es ist inhaltlich der richtige Umgang mit den beiden Stücken, die von der Nähe zum Publikum leben.
Gab es Überlegungen, auch im Winter in Zelten zu spielen?
Der Grund, warum wir nicht wie bei La Strada im Sommer auch im Winter Zelte aufstellen und im Freien spielen, ist eine Frage der Beheizung. In unserer Zeit erscheinen uns Heizöl und Dieselgeneratoren keine adäquate Lösung. Gemeinsam mit unseren Partnern widmen wir uns der Fragestellung: „Kann man eigentlich Zelte im Winter mit alternativen Energieformen heizen? Wie funktioniert das? Kann man in einem Park einen Fernwärmeanschluss beantragen, um einmal im Jahr für zwei Wochen ein Zelt hinzustellen und dieses so zu beheizen, dass dabei keine unmittelbare Emission entsteht?“ Diesen Fragen wollen wir im Rahmen der Stadtentwicklungsprozesse rund um die Helmut Liste Halle nachgehen. Dort soll im neuen Stadtteil auch ein Park entstehen und es werden sich Firmen ansiedeln, die sich intensiv mit alternativer Energiegewinnung auseinandersetzen.
Es ist die vierte Produktion der Compagnie The 7 Fingers, die im Rahmen von La Strada und Cirque Noël gezeigt wird. Was fasziniert Sie an der mehrfach prämierten Compagnie?
Dass die Produktionen und ihre Geschichten immer um den einzelnen Artisten herum aufgebaut sind. Der Cast steht vorab fest und aus diesem wird erst die Erzählung entwickelt. Im Fall von Réversible ist es ein besonders spannendes Konzept. Es geht nicht nur um die Geschichte der einzelnen Darsteller, sondern um deren Familiengeschichte. Die Künstler recherchierten bis zur Großeltern-Generation, fragten nach jenen Momenten im Leben, in denen sie wichtige Entscheidungen getroffen hatten. Momente, die ihr Leben beeinflusst hatten. Mit der Sprache des Zirkus und den individuellen Fähigkeiten der Artisten werden diese Erzählungen wieder zum Leben erweckt und zu einer gemeinsamen Geschichte verwoben. Das Zusammenspiel der Darsteller und die wunderbare Choreografie öffnen neue Räume und Möglichkeiten, und das ist es auch, was mich – neben der Top-Akrobatik – besonders an diesem Projekt fesselt. Das Stück lässt sich Zeit, die einzelnen Figuren werden durch die Gestaltung des Bühnenraums und die Musik unterstützt. Jeder Künstler wird irgendwann in den Mittelpunkt gerückt, es gibt eine Konzentration auf diese Person, in der der Respekt spürbar ist vor den persönlichen Geschichten und dem großartigen Können.
Was würden Sie dem Publikum gern mit auf den Weg geben?
Wir laden ganz bewusst Compagnien immer wieder ein, stellen diese Schritt für Schritt vor. Für diejenigen, die The 7 Fingers kennen, wird sich bei Réversible eine weitere Tür öffnen, die noch tiefere Einblicke in die Geschichte gibt und in die Erzählform der Gruppe. Für mich ist es so, als ob uns The 7 Fingers von ihrem Vorzimmer ins Wohnzimmer lassen. Und ich kann dem Publikum schon jetzt verraten, dass La Strada mit der Gruppe an einer Koproduktion arbeitet, die im Rahmen von Cirque Noël 2019/2020 zur Uraufführung kommt. Die Arbeit hat bereits begonnen. Die Basis sind Texte von Stefan Zweig und es sollen künstlerische Beiträge aus Österreich, sogar aus Graz, eingebunden sein. Zweig ist ja ur-österreichisch, aber sehr gut ins Französische übersetzt worden. Das ist eine gute Basis für eine internationale Produktion, die im französischen Raum Kanadas genauso wie im europäischen funktionieren soll. Es ist ein Projekt, das hier in Graz startet und dann weltweit auf Tour geht.
La Strada und Cirque Noël verstehen sich als produzierende Festivals. Warum ist Ihnen das wichtig?
In meinen Augen braucht es immer wieder jemanden, der Innovationen anstößt, der Pionierarbeit leistet. Dahinter steckt viel Arbeit. Unser Ziel ist es, die Künstler mit dem Publikum zu verbinden. Es reicht nicht, dass wir Gruppen nach Graz bringen. Vielmehr freut es uns, wenn das Publikum bei der Entwicklung von Projekten dabei ist. Es ist unsere Verantwortung, Impulse zu setzen. Gerne lassen wir uns – gemeinsam mit dem Publikum – auf Neues ein und loten mit den Künstlern Themen unserer Zeit aus. Es ist unser Anliegen, künstlerische Projekte von Anfang an, von der Idee weg, zu begleiten und sie bei unseren Festivals zu zeigen. Und hier – das ist für mich ein wesentlicher Punkt – bei den Uraufführungen auf ein kritisches Publikum treffen, das sich bewusst auf das Neue einlässt und mit seinen Reaktionen wichtiges Feedback gibt. Auf diese Weise sind die Besucher selbst ein wesentlicher Teil des Produktionsprozesses, sind so eine Art Onkel und Tante, die das Kind auf eine Reise schicken. In unserem Fall auf eine internationale Tournee.
A Simple Space von Gravity & Other Myths: 18.–30. Dezember 2017, Orpheum Graz
Réversible von The 7 Fingers: 22. Dezember 2017 bis 4. Jänner 2018, Helmut List Halle
Sei selbst mit dabei beim Cirque Noël: Workshops mit der Grazer Gruppe Akrosphäre: Workshop für Kinder und Partnerakrobatik; Möglichkeit eines persönlichen Treffens mit den Künstlern; neue T-Shirt-Kollektion
Mehr Informationen auf: www.cirque-noel.at