Die Poesie der Linie. Sie beginnt mit einem Punkt und zieht eine gerade Spur nach sich. Sie kann entspannt und zart, aber auch hart und widerspenstig sein. Sie zieht Grenzen, um sie zu brechen, und ändert immer wieder ihre Richtung: Die Linie ist das grundlegende Element des grafischen Ausdrucks und zentrales Motiv in Renate Krammers Kunstwerken.
Text: Julia Braunecker
Ob Radierungen, Grafitzeichnungen, Fotografien oder 3-D-Arbeiten in Plexiglas: Die Künstlerin Renate Krammer ist vom Phänomen der grafischen Linie fasziniert. Mit Buntstiften verdichtet sie hunderte Linien zu textilähnlichen Flächen, verarbeitet Kupferdraht und Acrylglasstäbe zu Webearbeiten und lässt durch das streifenförmige Zerreißen von Seidenpapier ungewöhnliche Reliefs entstehen. Die gebürtige Kärntnerin beschäftigt sich seit zwanzig Jahren unermüdlich mit der auf eine lineare Ordnung reduzierten Formensprache. Ein Ausschnitt ihres bisherigen künstlerischen Schaffens ist ab dem 5. Dezember im Kulturzentrum bei den Minoriten zu sehen.
Am Anfang war der Zufall
Krammers Entscheidung, „immer mit dem Gleichen Künstlerin zu werden“, entstand ursprünglich aus einem Zufall heraus: Sie nahm an einem Seminar des minimalistischen, österreichischen Malers Paul Rotterdam teil und erhielt den Auftrag, ihr abstraktes Innenleben zu zeichnen. „Anfangs wusste ich mit dieser Aufgabe nichts anzufangen“, erinnert sie sich. Bis ein sich vor ihr auftürmender Flachbretterstapel ihre Aufmerksamkeit erregte. Strich für Strich begann sie die Umrisse des Stapels nachzuzeichnen. Seither bleibt sie ihrer Linie treu. „Die Ideen gehen mir nicht aus.“ Krammer zieht ihre Linien mit der Hand und beschränkt sich dabei auf einen einzigen Richtungsvektor, nämlich die Horizontale. „Seit der Renaissance sind viele Kunsthistoriker der Meinung, dass es in der Natur keine waagrechte Linien gibt“, sagt sie. „Schenkt man ihnen Glauben, so existiert die regelmäßige Linie nur im Gehirn des Menschen.“
Reduktion aufs Wesentliche
Worauf gründet ihre Faszination für gerade geometrische Formen? Krammer möchte mit ihrer Kunst einen Beitrag zur Verlangsamung leisten. „Wir leben in einer schnelllebigen Zeit, in der zu viele Eindrücke gleichzeitig auf uns niederprasseln“, meint sie. Das simple Element der Linie biete die Möglichkeit der Reduktion, einer Beschränkung auf das Wesentliche. Die Wahl einfacher und sparsamer Mittel der Gestaltung sei ein Versuch, sich von Unnötigem zu befreien. „Auch die Zeit stellt einen wichtigen Faktor in meiner Kunst dar,“ erzählt Krammer, die bei der Herstellung jedes ihrer Werke viel Ausdauer beweist. „An meinen Bildern arbeite ich oft mehrere Wochen. Durch die intensive Konzentration auf die Linienführung bekommt der Faktor Zeit eine ganz andere Dimension.“ Die Linie diene aber auch als eine Metapher für Dinge, die entstehen und wieder vergehen und dabei kaum wahrnehmbare Spuren ihrer Existenz zurücklassen würden. „Sie hat mit dem Nebensächlichen und Verborgenen zu tun, mit dem Vorläufigen und dem Flüchtigen.“ Zudem sind Punkte und Linien für die menschliche Orientierung seit jeher von großer Bedeutung. Sie verbinden sich zu Informationen und machen zweidimensionale Flächen zu dreidimensionalen Räumen.
Die Kunst des Weglassens
Auf den ersten Blick sind in Krammers Kunstwerken keine Motive erkennbar. „Meist handelt es sich um Details, mit mikroskopischem Blick betrachtet, der ihnen eine neue Bedeutung gibt“, erklärt sie. Die Vernachlässigung des Gegenständlichen sei aber keine banale, sondern eine höchst anspruchsvolle Aufgabe. „Für mich ist die Beschäftigung mit der Linie – als elementares Mittel der künstlerischen Gestaltung – eine Herausforderung.“ Gerade mit der Reduktion auf die Linie entstünden keine Einschränkungen, sondern unbegrenzte Form- und Ausdrucksmöglichkeiten.“ Das Ergebnis bezeichnet sie als Partitur oder als „Schrift ohne Worte“, die auch die unterschiedlichen Gefühlslagen der Künstlerin zur jeweiligen Entstehungszeit zu transportieren vermögen. „Wenn ich auf meine Werke zurückblicke, ist es, als würde ich ein Tagebuch durchblättern“, meint Krammer. Die Details der Linienführung, die Kraft des Andrückens und die Spuren des gebrochenen Grafits sind nie dieselben. „Die Linie ist gewissermaßen auch Ausdruck meiner Befindlichkeit.“
Einladung zur Biennale
Einer ihrer größten künstlerischen Erfolge war 2016 die Teilnahme an der 15. Architekturbiennale in Venedig, wo sie bei der Ausstellung Time-Space-Existence mit einem Raumprojekt vertreten war. „Eigentlich habe ich ein Jahr zuvor meinen Folder nur in der Galerie hinterlassen, um mit der Leitung in Kontakt zu treten. Daraufhin wurde ich eingeladen, meine Werke im Rahmen der Biennale zu präsentieren“, berichtet Krammer stolz. In der Ausstellung beschäftigte sie sich mit der Interaktion der Linien mit dem Raum. Im Palazzo Bembo habe sie im wahrsten Sinn des Wortes ein Gewebe im Raum aufgespannt, schreibt der Leiter des Bruseums im Universalmuseum Joanneum, Roman Grabner, über ihr Projekt: „Von einem unter der Decke installierten losen Netz hängen zwölf Zeichnungen herab, die in ihrer Dimension annähernd lebensgroß sind und so im Raum schweben, dass die grafischen Strukturen der Blätter von jedem Standpunkt aus einsehbar sind.“ Die sich so ergebenden unterschiedlichen Perspektiven seien auch als Strategie der Raumerschließung zu verstehen. „Zugleich sollen durch die Lichtregie die räumlichen Qualitäten der Arbeiten betont und die Schlagschatten der Werke an der Wand sichtbar gemacht werden.“ Nach der erfolgreichen Ausstellung im letzten Jahr nahm Krammer heuer im Palazzo Mora an der Kunstbiennale in Venedig teil. Dort präsentierte sie innerhalb der Ausstellung Personal Structures Werke aus transparentem Seidenpapier.
Linienraum
Was in Venedig als Interaktion mit dem Raum begann, setzt Krammer in der aktuellen Ausstellung bei den Minoriten mit einem vier Meter langen und rund zwei Meter hohen, begehbaren „Linienraum“ fort. Dieser diene freilich nicht bloß als eine begehbare Kiste oder ein begehbarer Tunnel. „Man kann Bilder nicht nur sehen, Zwischenräume wahrnehmen und Vibrationen erspüren, man kann die „gestrichten“ Wände auch sinnlich betreten“, sagt Kurator Johannes Rauchenberger. „Wie und wo verdichtet sich dabei die Kommunikation? Wo kann man dabei Anteil nehmen, wo an diesen Verdichtungen und Verwebungen weiterarbeiten?“ Raum ist für Krammer ein Gewebe von Beziehungen von Dingen und Menschen in der sie umgebenden Architektur. „Diese Installation könnte auch an einem anderen Ort stehen“, sagt sie. „Auch mitten in der Natur würde er dafür sorgen, dass man die Umwelt anders wahrnimmt.“ Neben dem Linienraum werden eine Reihe von Bildern und Skulpturen der Künstlerin zu sehen sein. Welche Zielgruppe möchte sie mit ihrer Ausstellung ansprechen? Grundsätzlich muss das Publikum bereit dazu sein, sich auf abstrakte Kunst einzulassen, antwortet die Malerin. Wenn die Bereitschaft zur Auseinandersetzung vorhanden sei, könne aber jeder Betrachter einen Zugang zu den sogenannten Stricharbeiten finden. Für die Zukunft plant Krammer, die schon als Kind davon träumte, eines Tages Kunstmalerin zu sein, eine Fortsetzung ihrer linearen Grafiken: „Die Ideen gehen mir nicht aus. Mir wird nie langweilig.“ Mit ihrem Gespür für das Wesentliche bleibt Renate Krammer also weiterhin „ihrer Linie treu“.
Ausstellung von Renate Krammer: Die Poesie der Linie
Von 6. Dezember 2017 bis 6. Jänner 2018
Öffnungszeiten: Di–Sa, 11–17 Uhr (26. und 30. Dezember 2017 geschlossen)
Kulturzentrum bei den Minoriten, Mariahilferplatz 3, 8010 Graz
Infos: 0316 711 133, www.kultum.at
Weitere Termine
Eröffnung: Dienstag, 5. Dezember 2017
19 Uhr: Führung durch die Ausstellung: mit Kurator Johannes Rauchenberger und Renate Krammer, Samstag, 30. Dezember,
11.15 Uhr: Künstleringespräch mit Renate Krammer und Finissage: Samstag, 6. Jänner 2018, 11.15 Uhr