Der ESC feiert nicht nur die kulturellen Unterschiede, sondern dokumentiert auch die politischen Veränderungen, die gerade weltweit, vor allem auch in Europa, geschehen. Faszinierend, berührend, bewegend und wertvoll – all das vereint er unter dem heurigen Motto „ALL ABOARD“.
Text: Karoline Milopoulos / Marguerita Müller
Heute Abend findet in der Altice Arena in Lissabon das 63. Finale des Eurovision Song Contest statt. Im Laufe der Woche kamen mehr als 1200 JournalistInnen aus aller Welt nach Lissabon, um die einzigartige Stimmung und das Geschehen rund um den ESC in die Welt zu transportieren. Lissabon hat, seiner südländischen Natur und Mentalität nach, alle sehr herzlich empfangen. Als Austragungsort von vielen unterschiedlichen Festivals (z.B. IndieLisboa, Rock in Rio oder Sintra Music Festival) ist Lissabon eine erfahrene Gastgeberin von Musikveranstaltungen. Die Dimensionen und das Genre des ESC sind dennoch für sie Neuland, denn Portugal ist, nachdem im Vorjahr in Kiew Salvador Sobral mit dem Lied Amar Pelos Dois gewann, zum ersten Mal in der Geschichte des ESC Austragungsland dieses Spektakels.
Das Gefühl und die Botschaft des heurigen ESC passen sehr gut zu dieser Stadt, die eben genau das ausmacht, was auch den Songcontest ausmacht: die Vielfalt dieser Welt zu feiern und die Freude an der Begegnung zu leben. Eigenschaften, die nicht nur die Stadt Lissabon charakterisieren, sondern auch die Menschen in ganz Portugal. Als Land von EntdeckerInnen und PoetInnen gelingt es hier sehr gut, diese besondere Energie des portugiesischen Geistes zu spüren. Die Portugiesen sind ein sehr stolzes Volk, dessen Stärke darin liegt, offen für Neues zu sein und Emotionen Ausdruck zu geben. Mit einem Wort „Fado“. Nicht umsonst treten heute Abend dessen große Diven Mariza und Ana Moura im Finale auf, um dieser besonderen Kultur vor aller Welt Ausdruck zu verleihen. Süße Melancholie, die Hoffnung, dass alles irgendwann besser wird und die Liebe zum Leben, die der Fado durch seine poetischen Texte transportiert, werden heute Abend 10.000 ZuschauerInnen in der Altice Arena live und über 200 Millionen FernsehzuschauerInnen fast auf der ganzen Welt zu spüren bekommen. Leider nur fast die ganze Welt, denn China wurden die Rechte für die Ausstrahlung genommen, weil das chinesische Fernsehen Teile der Show zensiert hat. Die Regeln der EBU (European Broadcast Union) verbieten allerdings jegliche Zensur. Weltweit trifft es aber immer noch recht gut, wenn man bedenkt, dass Australien seit 2015 auch am ESC teilnimmt. Heuer sogar mit der Chance auf eine sehr gute Platzierung. Jessica Mauboy mit „We got Love“ findet unter den tausenden Fans aus aller Welt viel Gefallen, die Wettquoten sehen sie aber nicht unter den Top10. Dort ist ganz klare Favoritin Eleni Foureira aus Zypern mit ihrem Lied Fuego. Ein sehr einprägsames Lied mit einer ebenso beeindruckenden Bühnenperformance. Sowohl bei den Proben, als auch im großen Grand Jury Final gestern Abend war sie klare Favoritin des Publikums. Schon ab der ersten Sekunde ihres Bühnenauftritts jubelte und sang die komplett ausverkaufte Altice Arena ihr Lied.
Damit hat sie den Beitrag aus Israel, der Anfang der Woche noch als absoluter Favorit gehandelt wurde, offenbar auf Platz 2 der Vorhersagungen verwiesen. Anders als die Jahre zuvor, wo es von Anfang an stets einen klaren Favoriten gab, fehlt dieser beim diesjährige Wettbewerb. Weder Fans noch Journalisten haben sich heuer schon im Vorfeld festgelegt. Stattdessen wird mit Spannung abgewartet, welche Energie und Stimmung die einzelnen Performances mit sich bringen. Man muss nämlich bedenken, dass jedes Land seinen Song bis zu 20 Mal in einer Woche auf irgendeiner Bühne dieser Stadt vorträgt (Proben, Familienshows, Juryshows Liveübertragungen und Auftritte in Botschaften oder Bars, die speziell für den Songcontest Veranstaltungen organisieren). Aber der ESC bringt nicht nur viel Musik in den Austragungsort. Er wird begleitet von regem Treiben der Fans auf den Straßen, Menschen jeglicher sexueller Orientierung aus den unterschiedlichsten Ländern dieser Welt, die alle eines gemeinsam haben: sie erfreuen sich am Leben, tauschen Erfahrungen aus und versprühen diese einzigartige Energie, die den Songcontest wirklich ausmacht.
Damit ist der ESC auch aus wirtschaftlicher Sicht ein wichtiger Faktor für den Tourismus jeder Stadt, die ihn austragen darf. Ein wertvoller Pluspunkt, dieser Veranstaltung, den Lissabon zurzeit eigentlich gar nicht benötigt. Diese Stadt erlebt auch ohne ESC seit ein paar Jahren einen unglaublichen Boom. Es ist durchaus berechtigt zu sagen, Lisboa hat Städte wie Barcelona oder Istanbul als „the place to be“ in Europa abgelöst. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten. Der Hype um diese wunderschöne Stadt hat zu einem horrenden Anstieg der Mieten geführt, die sich die BewohnerInnen Lissabons kaum noch leisten können. Portugal selbst befindet sich nach wie vor in einer wirtschaftlichen Krise, deren Ende nicht in Sicht ist. Nichtsdestotrotz entschädigt Lissabon seine BewohnerInnen damit, eine aufgeschlossene, freundliche und von einem eindrucksvollen Licht durchflutete Stadt zu sein, deren architektonische Vielfalt fast einzigartig auf der Welt ist. Spaziergänge durch die verschiedenen Viertel sind eine Reise durch die Geschichte. Geschichte, die lebt und sich ständig weiterentwickelt. Denn außer der Freundlichkeit und Lebensfreude ist hier gefühlt nichts konstant. Überall spürt man, dass sich ständig irgendwo irgendetwas tut, stets begleitet von einer gewissen Ruhe und Gelassenheit. Auch aufgrund seiner in unmittelbarer Nähe gelegenen Naturschönheiten (wie z.B.Sintra, Cascais und die Atlantikküste) ist Lissabon eine äußerst geeignete und reizvolle Reisedestination. Das milde Klima trägt dazu bei, dass die Stadt von Touristen aller Welt mittlerweile schon ab März bis in den November hinein bereist wird. Es ist daher kein Wunder, dass der diesjährige Songcontest eine wundervolle und auch lebensbejahende Zeit und Erfahrung für alle Menschen, die in irgendeiner Weise mit ihm in Berührung kommen, ist.
Berauscht von der Musik und Gefühl, stellt sich dennoch noch eine wichtige Frage: Wer gewinnt heute Abend und wie gestaltet sich das Voting? Die Antwort auf ersteres kann zum Glück keiner wirklich geben, sonst wäre der Spaß an dem ganzen Trubel nur halb so groß. Zweiteres ist mehr oder weniger leicht zu erklären. Alle 43 Länder, die beim diesjährigen Lissabonner ESC teilnehmen, sind beim Finale stimmberechtigt – auch jene, die bereits in den Halbfinalen ausgeschieden sind. Die Wertung eines Landes setzt sich zusammen aus dem Votum des Publikums via Anruf, App oder SMS (im Falle Österreichs: 0901 059 05 plus der Startnummer des Favoriten) sowie dem Votum einer fünfköpfigen Expertenjury. Derzeit werden die beiden Teilergebnisse im Verhältnis 50:50 gewichtet. Die besten zehn Titel werden mit 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 10 und 12 Punkten bewertet. Die Punkte der Jurys und der Zuschauerabstimmung werden dabei nicht pro Land kombiniert, sondern einzeln gewertet. Konkret vergibt damit jedes Land also zweimal 12 Punkte. Zunächst stellen die Ländersprecher in gewohnter Manier am Finalabend nur die 12 Punkte der Jurywertung vor, während die Punkte 1 bis 10 eingeblendet werden. Dann werden die Platzierungen des Publikumsvotings für die Plätze 26 bis Platz 11 in ihrer Gesamtheit addiert. Die restlichen Punkte werden dann von den Moderatorinnen nach dramaturgischen Gesichtspunkten vorgetragen.
Dieses System soll den Gewinner möglichst lange offen halten – und die Spannung natürlich steigern, vorausgesetzt, die Zuschauer verstehen das Prozedere. Noch Fragen?! Sollte es trotz allen mathematischen Bemühungen am Ende einen Gleichstand zwischen zwei Ländern geben, gewinnt jenes Land, das vom Publikum höher bewertet wurde. Das Zuschauervotum hat in diesem Fall also Vorrang. Sollte auch die Zahl der Zuschauerstimmen für die beiden Songs genau gleich sein, liegt jener Song vorne, der aus mehr Ländern Publikumsstimmen bekommen hat. Sollte auch diese Zahl gleich sein, obsiegt jenes Land, das öfter 12 Punkte bekommen hat. Wenn auch dies keinen Sieger ermittelt, wird diese Regelung bis hinunter zu 1 Punkt fortgeführt. Und sollte der mathematisch unwahrscheinliche Fall eintreten, dass sich auch bis zu Punkt 1 für beide Länder ein Gleichstand ergibt, wird das Land zur Siegernation gekürt, dass die frühere Startnummer im Finale hatte. Zumindest in diesem Fall ist eine niedrige Startnummer also von Vorteil. Das würde dann nichts Gutes für die Zypriotin Eleni Foureira bedeuten, die bekanntlich eine der Topfavoritinnen ist. Sie geht mit der vorletzten Startnummer 25 ins Rennen. Umso mehr freuen wir uns für den österreichischen Beitrag von Cesar Sampson, der heute Abend bereits als Fünfter die Bühne betritt. Seine Chancen für eine Platzierung unter den Top Ten stehen gar nicht schlecht.
Eines steht aber fest: Ganz egal wer gewinnt, heute Abend wird wieder gefeiert und die Freude auf den nächsten Austragungsort ist groß.