Regisseur Volker Hesse wagte sich für „Altes Testament“ an das Buch der Bücher. Ein Gespräch über eine grausame Vorlage und deren ungebrochene Aktualität.
Text: Wolfgang Pauker
Sie beschäftigen sich gerne mit großen Texten und Mythen der Menschheit. Was reizt Sie am Projekt „Altes Testament“?
Ich bin seit einigen Jahren immer wieder an philosophischen Fragestellungen, die man im weitesten Sinne als spirituell bezeichnen kann, und Sinnfragen interessiert. Und ich habe persönlich einfach große Lust, in einem öffentlichen Forum, das Theater sein kann, darüber nachzudenken, was uns in Mitteleuropa noch bleibt vom Glauben und was noch an religiöser Sehnsucht vorhanden ist. Es sitzt tief in meinem Bewusstsein, dass der Glaube nur noch etwa 10 % der Bevölkerung regelmäßig in die Kirchen lockt. Ich selbst bin zwar kein Mensch, der im Offenbarungsglauben zu Hause wäre und habe mich auch irgendwann von meiner katholischen Erziehung gelöst, aber die katholische Sozialisation oder die philosophischen Grundfragen verlassen einen nicht einfach. Ich möchte das Theater, wie es im griechischen Theater zum Beispiel war, als Ort der Orientierung, der religiösen Sinnsuche benutzen. Auch wenn sich unsere Fragen heute natürlich ganz anders stellen.
Viele Geschichten, die unser Wissen und unsere Kultur prägen, finden sich im „Buch der Bücher“. Welche Erzählungen greifen Sie für das Stück auf und warum?
Ein Kriterium für die Auswahl war natürlich, dass man die besonders kräftigen und anschaulichen Erzählungen nimmt, die das Alte Testament überliefert. Wir haben vorwiegend Episoden aus der Genesis und aus dem Exodus und die wundersamen und berührenden Geschichten, die bei einer ganzen Menge Menschen zumindest als Kindheitserinnerung vorhanden sind, gewählt. Aber die Auswahl der vielen Motive ist auch noch von anderen Kriterien bestimmt. Ich habe etwas beim Immer-wieder-Lesen des Alten Testaments ganz berührend und überraschend empfunden: Es handelt ganz anhaltend von heimatlosen Menschen. Immer wieder wandern die Leute in andere Länder, in andere Gebiete, um Heil oder eine Heimat zu finden. Unsere Fassung betont diesen Aspekt sehr stark, denn eines der großen Themen unserer aktuellen politischen Auseinandersetzung sind die Flüchtlinge und der Umgang mit dem Migrationsdruck. Da erzählt die Bibel bewegende Geschichten, die vor tausenden von Jahren passiert sind und die zeigen, dass das Leiden in der Fremde oder die Sehnsucht nach einer neuen Heimat sehr alte Fragen sind. Ich hoffe, dass die Empathie für Flüchtlinge gestärkt werden kann, indem man sich diese alten Geschichten vor Augen führt.
Eine Besonderheit der Aufführung ist auch die Einbindung des Publikums. Bühne und Zuschauerraum verschmelzen zur „Arena“.
Der Zuschauer hat keinen klaren Platz, sondern es gibt im Laufe des Spiels immer wieder andere Möglichkeiten, am Geschehen teilzunehmen. Es gibt Sitzkisten, auf denen man sich niederlassen kann, aber die Position dieser Kisten wird immer wieder verändert. Ich habe das Bedürfnis, die Menschen so anzusprechen, dass sie nicht einfach nur auf eine Bühne schauen, sondern dass man sich in einer gemeinsamen und von allen zusammen kreierten Atmosphäre Geschichten vorstellt. Formen des interaktiven Spiels geben viele Möglichkeiten, die mir für ein solches Werk spannend erscheinen.
Religion spielt zunehmend eine brisante Rolle im Zusammenleben der Kulturen. Könnte es auch im Westen zu einer Abkehr vom Laizismus kommen?
Die Sehnsucht nach religiösen Erfahrungen ist nach wie vor sehr groß, aber viele Menschen suchen diese außerhalb der traditionellen Kirchen. Dieses Phänomen gibt es ganz stark in Amerika, wo gerade die sektenartigen Gruppierungen größer werden. Und auch in der ganzen Auseinandersetzung mit dem Islam gibt es vielfältige Reaktionen, die unsere christlichen Traditionen von fanatischen islamistischen Phänomenen zu unterscheiden versuchen. Insofern wird in den letzten 15 Jahren mehr über Religion gesprochen als davor. Gleichzeitig aber schreitet der Verlust an traditioneller christlicher Praxis, an wirklich tiefer Gläubigkeit weiter fort. Bei vielen christlichen Festen ist der religiöse Kern nur noch Minderheiten überhaupt vertraut und wichtig. Der Verlust der Kenntnis der großen kulturgeschichtlichen Leistungen des Christentums, die sich in der bildenden Kunst, in den Kirchenbauten, den großartigen Texten und christlichen Traditionen greifen lassen, ist unverkennbar. Es trivialisiert sich, was einmal einen großen Atem und eine große meditative Kraft hatte.
Ist das Stück so grausam wie die Vorlage und wird rezitiert oder interpretiert?
Die Fassung besteht nur aus Zitaten der Bibel, und wir folgen grundsätzlich dem Text der heiligen Schrift. Und die ist berühmt für viele schmerzliche oder grausame Geschichten, in denen geopfert und gequält wird und wo viele kriegerische Auseinandersetzungen geschildert werden. Andererseits hat vieles im Alten Testament eine geradezu groteske Komik. Es wird in dem Stück auch das Schreckliche oft über das Komische gezeigt. Es wird Momente der meditativen Stille und der Konzentration geben, aber auch Verrücktes, Groteskes, Buntes und spontan zum Lachen Reizendes.
Altes Testament
Die Bibel ist eines der bekanntesten Bücher der Welt und eine der Säulen unserer abendländischen Kultur. Dennoch nimmt das Bibelwissen hierzulande ab. Dabei waren die Texte jahrhundertelang eine der wesentlichen Inspirationsquellen für Kunst, Literatur und Musik. Die Geschichten im Alten Testament beschwören in mächtigen Bildern eine grausame, chaotische, undurchschaubare Welt und Natur, der der Mensch immer wieder Würde und Zivilisation abzutrotzen versucht. In der Beschäftigung mit den Texten sieht Regisseur Volker Hesse die Möglichkeit, dem oft oberflächlichen Reizdruck unserer Gegenwart eine anthropologische Dimension und archaische Kraft entgegensetzen zu können. Dieser monumentalen Aufgabe stellt er sich gemeinsam mit 13 SchauspielerInnen und 5 Live-Musikern im dafür spektakulär umgestalteten HAUS EINS.