„Ich habe die Käfersucht!“ Das Theater im Keller entführt das Publikum in die bizarre Gedankenwelt eines traumatisierten Kriegsflüchtlings. Erinnerungen an das Grauen krabbeln wie Käfer an die Oberfläche.
Text: Bettina Leitner
„Sagen wir, es ist Krieg. Sagen wir, Menschen werden zu Tieren.“ Sagen wir, das ist die Ausgangssituation des Stückes; eines Stückes, das so real und surreal zugleich ist, dass sich die Grenzen aufzulösen scheinen und Merkwürdiges vonstattengeht. Das Publikum wird durch die Erinnerungen des Kosovoflüchtlings Uriel und seiner immer wieder durchscheinenden Traumata Schritt für Schritt in die – im wahrsten Sinne des Wortes – „verrückte“ Welt des Mannes entführt. Doch nicht nur die Zuschauer werden von seinen Gedanken eingenommen, auch die junge Biologiestudentin Fine gleitet unter dem manipulierenden Einfluss Uriels langsam, aber sicher aus der Realität, bis auch sie sich schuldig fühlt; am Tod zahlreicher Käfer wie auch Seidenraupen … und Uriels Vergangenheit. Ein Stück von Fluch und Gnade des Vergessens.
„Das Erinnern ist Körper geworden“
Die eingangs in Raffael verliebte Fine fühlt sich vom charismatischen Uriel und seiner von Gewalt und Verlust geprägten Vergangenheit magisch angezogen und sucht seine Nähe. Uriel wirkt unbeschwert und sorglos, womit er wiederum Faszination auf die junge Biologin ausübt. Zunehmend drängen sich mehr und mehr verstörend wirkende Assoziationen auf, wenn Uriel scheinbar Details aus Fines Kindheit offenbart. „Erinnerst du dich? Jedes Erinnern ist ein Vergessen. Es geht leicht, die Käfer zu ertränken. Du weißt es nur nicht mehr.“ Fine fühlt sich schuldig. Schuldig des Mordes. An Käfern. Vereinnahmt von den verschobenen Gedanken Uriels und seiner Traumata scheint sich die eigene Existenz der jungen Frau aufzulösen und immer mehr zu der seiner Mutter zu werden, wie es sein Trauma von ihr verlangt. „Ich bin dein Kriegstrauma geworden. Es gibt mich nicht“, erkennt Fine. „Denn ist Käfermord und Menschenmord nicht dasselbe?“
Dramatisch traumatisch
Reyers Käfersucht mit der genial-gewagten Inszenierung des TiK präsentiert sich als psychologische Innenschau in die traumatisierte Seele eines Flüchtlings, dessen Verdrängungsmechanismen langsam ermatten und dessen grausame Erinnerungen mehr und mehr durch die scheinbar undurchschaubare Fassade brechen. Dem Theater im Keller ist es gelungen, die Abscheulichkeit des Traumas bildlich auf die Bühne zu bringen und somit ein Stück weit greifbar zu machen. Die Inszenierung arbeitet sehr feinfühlig mit Nähe und Distanz, ohne dabei zu sehr ins Melancholische abzugleiten. Gespickt mit schwarzem Humor und einer Prise Sarkasmus entwickelt sich vor den Augen der Zuschauer ein (sur)reales Gesamtkunstwerk, das zum Mitfühlen und Nachdenken zwingt, zugleich aber verunsichert. Hast nicht auch du in deiner Kindheit mit deinen Knubbelfingern lüstern Käfer zerquetscht? „Du erinnerst dich. Du kannst dich nicht erinnern.“
„Käfersucht“ von Sophie Reyer
Vorstellungen: Mi 21.11., Do 22.11., Fr 23.11., Di 27.11. und Do 29.11.2018 jeweils um 20 Uhr
Regie: Eva Weutz, Mit: Susanne Arlt, Katrin Ebner, Alfred Haidacher, Christian Krall
Tickets unter 0664 973 31 84 oder auf www.tik-graz.at
Theater im Keller, Münzgrabenstraße 35, 8010 Graz