Klassische Musik – Steckenpferd der Hochkultur? Nicht unbedingt, meint Mathis Huber. Der styriarte-Intendant plädiert für eine Verbindung von Kunst und Unterhaltung, die imstande ist, das Publikum zu verwandeln.
Text: Pia Moser / Stefan Zavernik
Die styriarte wird 2019 unter dem Motto „Verwandelt“ laufen. Inwiefern hat sich das Festival in den vergangenen Jahren selbst verwandelt?
Das Festival wurde für Nikolaus Harnoncourt gegründet und war von ihm über 30 Jahre lang stark geprägt. Vor allem hat er eine Schneise in eine kuriose, unbekannte Sicht von alter Musik geschlagen. Und uns gezeigt, wie viel Leben in den alten Aufzeichnungen steckt. Natürlich musste sich das Festival ohne ihn reorganisieren. Heute leben Harnoncourts Ideen im Festival weiter. Als Intendant der styriarte habe ich die Absicht, diese Ideen auf eine neue, frische Art weiterzudenken – ohne zu imitieren. Das Motto für 2019 verheißt vor allem das, was wir am liebsten tun: schöne Geschichten erzählen. Was aber nicht bedeutet, dass das Festival nicht inmitten der Gesellschaft angelegt ist. Jedoch kann man die Welt nicht verändern, indem man nur draufhaut. Sondern vor allem, indem man sie unterhält.
Wie kann sich ein Festival für klassische Musik dem Unterhaltungsgebot öffnen, ohne die eigene Identität zu gefährden?
Ganz generell muss sich ein Festival ständig verändern. Wir dürfen nicht stehen bleiben in einer Welt, die sich unglaublich schnell verwandelt. Damit nehmen wir auch zur Kenntnis, dass sich die Gewohnheiten der Konsumenten von Kunst ändern. Vor allem wird die Zeit immer knapper, in der man sich mit Kunst auseinandersetzt. Gleichzeitig gewinnt Kunst im Leben vieler Menschen an Bedeutung. Somit müssen wir unsere Kommunikation mit dem Publikum beschleunigen und auch unsere Methoden stetig verändern und hinterfragen. Der Erfolg von Formaten aus der Unterhaltungsindustrie ist nicht zu übersehen. Und es sollte nicht ausgeschlossen sein, dass die Kunst derartige Unterhaltungsformate übernimmt oder sich daran orientiert. Wir haben hier keinerlei Berührungsängste.
Mit neuen Formaten wie „SOAP“ oder „Salon“ intendieren Sie genau das: alte Musik zu vermitteln, ohne zu belehren. Wie kann diese Vermittlung konkret gelingen?
Wir möchten nicht nur das klingende Kunstwerk betrachten, sondern auch die damit verbundenen Kontexte, ihre soziale Funktion ernstnehmen. Denn nur dann können wir mehr davon verstehen. So ist etwa eine Requiem-Musik weitaus einfacher zu begreifen, wenn man sie im Kontext einer Trauerfeier betrachtet. Freilich kann man sich dieser Musik auch über formale und strukturelle Aspekte nähern. Aber die Idee des Requiem-Autors ist nicht, dass ich dieses höre wie eine Symphonie. Die Funktion ist nämlich folgende: einer Gruppe von Menschen in einer emotionalen Situation den Himmel aufzumachen und ihnen Trost zu geben. Musik kann das in fantastischer Weise. Natürlich wird man nun keine Toten organisieren, um ein Requiem aufzuführen … aber im Idealfall wäre es so (lacht).
Die passende Präsentationsform dient also dem Verständnis von klassischer Musik?
Wir möchten alle Projekte so gestalten, dass die Programmation selbst schon die Erklärung ist. Wenn es uns gelingt, erklärt und öffnet sich jede Produktion von selbst. Dann ist die Präsentation idealerweise auf der Höhe der Kunst. Der Konzertsaal als der Präsentationsraum von klassischer Musik der letzten 200 Jahre hat viel Musik in sich aufgenommen, die für ganz andere Sinnzusammenhänge komponiert wurde – und hier nichts verloren hat. Deshalb sollten wir die Konzertsaal-Musik im Konzertsaal lassen. Aber die Barockoper, die für eine kaiserliche Party komponiert wurde, so präsentieren, wie sie ursprünglich gedacht wurde.
Wie viel Wissen und Erklärung braucht klassische Musik generell, damit Menschen sie wirklich auskosten können?
Es ist eine Idee des bürgerlichen Zeitalters, dass man für die Erfahrung von klassischer Musik besonders klug und gebildet sein müsste. Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts hat sich die Musik erobert und in einem Ausmaß kultiviert, um sich damit eine Identität zu geben – und um etwas exklusiv zu besitzen. Damit einher geht die Haltung, es gäbe eine ernste Musik, mit der man sich vollends auskennen müsste. Auf der anderen Seite steht die Unterhaltungsmusik, sozusagen der restliche „Müll“. Effektiv ist es aber so, dass es nur Musik gibt, die für verschiedene Zwecke eingesetzt wird.
So erscheint Klassik nicht zwingend als alleinige Domäne der Hochkultur?
Mit unserem Programm arbeiten wir gegen dieses Missverständnis. Was uns von der kuriosen Haltung des einstigen bürgerlichen Betriebes geblieben ist, ist die Angst, die viele Menschen vor klassischer Musik haben. Es gibt durchaus Kenner in der Musik, die etwas aus ihr lesen können, das anderen nicht gelingt. Aber man muss das Kunstwerk nicht gänzlich verstehen, man muss sich diesem in erster Linie öffnen. Dann wird es einen überwältigen, glücklich machen, verändern. Wenn also ein vernünftiger Vermittler zur Stelle ist, kann man sich dem musikalischen Kunstwerk hingeben, ohne dass es eine zusätzliche Belehrung braucht. Musik ist eine universelle Sprache, die im Prinzip dazu da ist, Menschen zu berühren.
Denken Sie also, dass in jedem Menschen die Liebe zu klassischer Musik entflammbar ist?
Das entspricht nicht meiner Erfahrung. Manche Menschen fühlen sich einfach nicht von klassischer Musik berührt. Ich möchte aber all jene berühren, die berührbar sind. Ohne Grenzen der Nation, des Standes, der sozialen Schicht.
Welche „Dosis“ an Konzerten empfehlen Sie jemandem, der die styriarte 2019 erstmals besucht?
Es geht weniger um die Dosis, sondern vielmehr um den Inhalt der Konzerte. Eroica.SOAP ist sicherlich ein fantastisches Projekt für Einsteiger: Der charismatische Andrés Orozco-Estrada erzählt hier das Wesen einer der wichtigsten Symphonien der Geschichte im spielerischen Umgang. Auch All you need is Bach mit Cameron Carpenter kann für Pop-affine Menschen eine ideale Brücke sein: Ein Popstar spielt Bach auf einer Orgel, vor einem Publikum, das Andacht und Unterhaltung in einem finden möchte. Demgegenüber würde ich die Barock-Oper von Johann Joseph Fux nicht unbedingt für das erste Mal empfehlen. Denn die Oper ist die komplexeste musikalische Gattung überhaupt. Aufgrund der Vielfalt an Sinneseindrücken stoße ich hier immer wieder an die Grenze der Überforderung. Aber auch für die Oper gilt: Man kann sich dem Gesamtkunstwerk hingeben und so viel aufnehmen, wie man verarbeiten kann.
Das Motto der styriarte 2019 manifestiert sich in diesem Hauptstück des Festivals, der Fux-Oper „Dafne in Lauro“, einer der Geschichten in Ovids „Metamorphosen“. Was macht Johann Joseph Fux als Komponist so spannend?
Es ist seit einigen Jahrzehnten üblich, Barock-Komponisten auszugraben und ihre Kunst heute dem Publikum wieder zu offerieren. So war es auch bei Händel, Monteverdi, Vivaldi und einigen anderen. Nun haben bestimmte Orte spezielle Beziehungen zu Komponisten. Wir in der Steiermark könnten eine besondere Beziehung zu Johann Joseph Fux entwickeln: Er war einer der bedeutendsten österreichischen Komponisten, für dessen Qualität bürgt, dass die musikalischsten Kaiser der Welt – Leopold, Joseph und Karl – auf ihn gesetzt haben. Die Fux-Renaissance hat zuvor jedoch niemanden interessiert, da er zu den Wiener Musikern zählte. Und die Wiener Musik ist unglaublich reich an großen Namen. Aber allein die Tatsache, dass Fux sich als ein aus der Steiermark stammender Künstler in Wien durchsetzen konnte, ist ein Qualitätsbeweis.
Fux hat praktisch seine gesamte Musik für zeremonielle Akte am Wiener Hof geschrieben. Wie nähert sich die styriarte seinem Werk an?
In einer mehrjährig geplanten Serie werden wir sechs Stücke veröffentlichen, die verschiedenste Facetten zeigen. Diese Stücke wollen wir so präsentieren, wie Fux sie ursprünglich intendiert hat: als festliche Huldigungsopern. Die zeremoniellen Akte – eine Krönung, ein Geburtstag oder ein Namenstag – muss man einem heutigen Publikum neu deuten. 2019 werden wir in der Helmut List Halle das Feuerwerk der Dafne in Lauro-Oper im Rahmen einer barocken Party zelebrieren und daraus einen heutigen Genuss ziehen.