Am 19. September startet die diesjährige Ausgabe des steirischen herbst. „Achtzig“ sprach mit Intendantin und Chefkuratorin Ekaterina Degot über ein Programm zwischen nahender Apokalypse und Grund zur Hoffnung.
Text: Stefan Zavernik
Sie haben das Festival in diesem Jahr als ein rauschendes Fest angekündigt. Wie wird es gelingen, die Besucher in Feierlaune zu bringen? Immerhin geht es thematisch um die Abgründe unserer Gesellschaft, um einen nahenden Weltuntergang.
Es ist nicht unser primäres Ziel, das Publikum in Feierlaune zu bringen. Mit diesem Festival wollen wir Tiefgründigeres erreichen und die Menschen zur Reflexion über die europäische Geschichte anregen. Die pompösen und prächtigen Paläste aus der österreichischen Geschichte und die Balltradition vermitteln bis heute eine Art von Feierlichkeit; auch in Zeiten, in denen Österreich seine schwersten Momente erlebte und kurz vor dem Untergang stand. Diese Blase der Idylle ist bis heute nicht geplatzt: In Entwicklungsländern und Kriegsgebieten kämpfen die Menschen täglich um ihr Überleben und gegen den Faschismus, während man, metaphorisch gemeint, in Österreich auf Bällen das Tanzbein schwingt. Diese ambivalenten Stimmungen wollen wir aufgreifen und übereinanderlegen. Es handelt sich in der Tat um ein schwieriges und auch bedrückendes Thema, dennoch haben wir versucht, an dieses mit Witz und Ironie heranzugehen.
Der Weltuntergang vom Grand Hotel Abyss aus betrachtet wirkt erstaunlich angenehm. Ist diese Sichtweise auf Europa bzw. Österreich beschränkt? Will der steirische herbst die Menschen wachrütteln, damit diese noch rechtzeitig agieren können?
Die Ambition, das Publikum wachzurütteln, habe ich nicht. Das ist mit Kunst meines Erachtens auch nicht zu erreichen. Was die Kunst jedoch sehr wohl vermag, ist, Phänomene sichtbar zu machen und die Menschen anzuregen, darüber zu reflektieren, und sie zu ermutigen, aus ihrer Komfortzone herauszutreten und ihren Blickwinkel zu wechseln. Das ganze Festival ist eine subjektive Interpretation dessen, wie wir hier in Österreich einen drohenden Weltuntergang wahrnehmen. Wir spielen dabei mit der Dichotomie von Realismus und Surrealismus. Würden wir ein ähnliches Programm etwa in Afrika oder in China machen, würden sich die Betrachtungsperspektive und demnach auch der Fokus ändern. Wir hier in Österreich – oder generell in Europa – haben eine ausgesprochen paradoxe Lebenseinstellung, die von Lebensfreude, aber auch zeitgleich von der Angst einer nahenden oder vergangenen Apokalypse geprägt ist. Wir referieren mit diesem Sinnbild auf die österreichische Geschichte, auf die prekäre Situation um die Jahrhundertwende, die Zeit zu und zwischen den beiden Weltkriegen, aber auch auf die Wirtschaftskrise oder aktuell die Klimakrise – in diesen Momenten ist und war die Apokalypse durchaus spürbar.
Einige Beiträge im Programm beschäftigen sich mit der Apokalypse als möglichen Ort der Hoffnung und der Erneuerung. Wie sieht Ihre persönliche Vision aus und kommt diese auch im Festival zum Tragen?
Ich würde mich selbst als optimistische Pessimistin bezeichnen, denn ich sehe, dass sich vieles zurzeit problematisch entwickelt, ich bin aber gleichzeitig auch der Überzeugung, dass sich Lösungen oder zumindest Auswege finden lassen können. Einige Künstlerinnen und Künstler spielen mit genau dieser Erkenntnis, dass Apokalypse nicht zwangsläufig in einer finalen Zerstörung endet, sondern dass aus dem entstandenen Schutthaufen neue Möglichkeiten hervorgehen können.
Die Eröffnung wird in diesem Jahr mit einer Zeremonie der aus Krakau stammenden Künstlerin Zorka Wollny eingeleitet. Aus welchen Gründen ist sie der perfekte Opener?
Ich kenne Zorka Wollny schon seit Langem. Ich habe mich beim Eröffnungsprogramm konkret für sie entschieden, weil sie im Bereich Musik und Performance mit direktem politischen und gesellschaftlichen Bezug über große Expertise verfügt. Sie ist dadurch stark auf die Thematik, das Vorgehen in der EU und in benachbarten Gebieten sensibilisiert, was ihrer Performance ein hohes Maß an Authentizität verleiht.
Auf Wollnys Opfer folgt eine Eröffnungs-Extravaganza, die einer lebenden Ausstellung gleich den gesamten Congress bespielen wird. Was dürfen die Besucher hier erwarten?
Nach Wollnys musikalischer Eröffnung wird das Publikum in den Congress geleitet. In den zwei Stunden bis zu den Special Performances von Gernot Wieland, Erna Ómarsdottir & Valdimar Jóhannsson im Stefaniensaal können die Besucher frei im Foyer herumflanieren. Den Gäste werden in diesen zwei Stunden unterschiedlichsten künstlerischen Interventionen begegnen. Cibelle Cavalli Bastos wird etwa in einer Installation von der apokalyptischen Zukunft der Erde erzählen, die nach einem desaströsen Zusammenstoß mit anderen Planeten kaum mehr bewohnbar ist. In dieser Science-Fiction-Szenerie wird sie bis zum Zusammenbruch ein Spektakel zu vermehrt Frauen zugeschriebenem Multitasking performen. Es gibt aber vieles mehr zu erleben – die österreichische Künstlerin Jakob Lena Knebel wird mit einem lebendigen Tableau vivant überraschen, das Grazer Peformancekollektiv Das Planetenparty Prinzip lädt in einen Pop-up Store zur Beratung.
Die Eröffnungs-Extravaganza ist eine von vielen Veranstaltungen, die man nur mit dem Eröffnungspass – und nicht über ein Einzelticket – besuchen kann. Welche Strategie steckt hinter dem Pass?
Hinter diesem Angebot steckt die Intention, dass die Besucherinnen und Besucher das Festival mit unserem Programm als ein Ganzes sehen sollen und nicht als separate Veranstaltungen. Denn nur wer sich auf verschiedenen Ebenen, das heißt mit verschiedenen Stationen und Aufführungen unseres Festivals beschäftigt, erhält einen tieferen und auch authentischeren Einblick. Nur so kann dem Publikum die ganze Geschichte erzählt werden. Das ist vielleicht eine Idealvorstellung meinerseits, ich bin mir durchaus bewusst, dass nicht jeder die Zeit und die Muße für ein derart weitreichendes Programm aufbringen kann, aber hinter der Konzeption verbirgt sich zumindest die Hoffnung auf ein für jeden erlebbares Gesamtkunstwerk.
Wie viel muss man Ihrer Meinung nach vom herbst ’19 mindestens gesehen haben, um ihn als Ganzes begreifen zu können?
Ich empfehle hier auf alle Fälle die zahlreichen Installationen des Kernprogramms Grand Hotel Abyss wie beispielsweise diejenigen im Palais Attems. Die Kombination aus dem eleganten Rokoko-Interieur des Palais und der modernen Gegenwart erzeugt eine Spannung, die vielleicht zuerst verunsichert, doch schließlich fasziniert. Wir spielen hier mit der historischen Vielschichtigkeit des Ortes. Auch das Künstlerhaus würde ich zum Pflichtprogramm zählen. Erzählt wird dort die urbane Legende des Hauses mittels mehrerer künstlerischer Positionen, die unterschiedliche, jedoch komplementäre Einblicke in seine Geschichte gewähren. Zumindest zwei oder drei Theaterproduktionen sollten alle Kulturbegeisterten ebenso gesehen haben und auch bei einem der Gespräche aus der Reihe Ideen teilgenommen haben. Hier wird Interessierten die Möglichkeit geboten, etwas tiefer einzutauchen, hinter die Fassade des Grand Hotel Abyss zu blicken und sich mit Teilnehmenden auszutauschen. Wir haben hierfür spannende Expertinnen und Experten engagiert, wie Eva Illouz, die über das Glücksdiktat und das Verständnis von Glück in der heutigen westlichen Gesellschaft spricht.
Mit diesem „Glücksdiktat“ hinterfragt Illouz heuchlerische, weit verbreitete Glücksimperative. Erwartet Ihrer Meinung nach die heutige Gesellschaft von uns, trotz aller teils widriger Umstände glücklich zu sein?
Ich persönlich finde die Idee von „Glücksimperativen“ ziemlich seltsam. Leute suchen krampfhaft nach Glück. Für mich würde es mehr Sinn machen, wenn die Menschen nach mehr Lebenssinn streben, denn Glück ist so volatil und seine Bedeutung im Wesentlichen auch von der Sprache abhängig: Im Englischen ist der Terminus „happy“ relativ neutral zu verstehen, auf Russisch hingegen ist der Begriff sehr stark. Man verwendet ihn in überwältigenden Situationen, wie bei der Geburt des ersten Kindes. Glück kann für mich demnach kein Lebensziel sein. Es kommt oder es kommt nicht. Doch in der Gesellschaft scheint man es anders zu sehen. Es gibt eine ganze Industrie, die nur darauf abzielt, den Menschen die Notwendigkeit des Glücklichseins zu suggerieren, und die im gleichen Zuge auch mit entsprechenden Angeboten diese Bedürfnisse erfüllt. Es wird gerade in der Presse oder in Social Media verlangt, dass die Menschen immer glücklich sind, sich gut fühlen und das auch nach außen hin repräsentieren. Es überrascht nicht, dass Depressionen gerade dadurch immer häufiger werden! Das soll Glück sein?
Erstmals in der Geschichte des Festivals wurde unter Ihrer Leitung eine offizielle Einladung an die freie Szene ausgesprochen, Ideen für den herbst einzureichen. Wie hoch war die Bereitschaft der Szene, sich einzubringen, und wie viele Projekte haben aufgrund dieser Einladung ihren Weg ins Programm gefunden?
Es wurden insgesamt knapp über 100 Projekte bei uns eingereicht. Neben den traditionellen Kooperationen wie mit dem Haus der Architektur oder Rotor haben wir durch diese Initiative neue Partner für das Parallelprogramm des Festivals gewonnen, darunter das Pavelhaus in Bad Radkersburg oder kunstraum_8020. Einige der Einreichungen fanden auch Eingang ins Kernprogramm Grand Hotel Abyss, darunter ein komplettes Festival, das STUBENrein in Murau, oder die Grazer Künstlerin Hanna Rohn mit einer interaktiven Performance, die sozialen Beziehungen auf den Grund gehen wird. Dankend haben wir auch die Idee von Michael Zinganel angenommen, sein Projekt Schulausflug aus dem letzten Jahr, als Vermittlungsformat in unserem „Büro der offenen Fragen“ weiterzuführen und durch steirische Schulen zu touren. Mit Sicherheit werden wir auch noch in den nächsten Jahren aus den vielen Bewerbungen Ideen schöpfen, aus welchen sich neue Kooperationen ergeben.
Welche Visionen haben Sie mit dem Festival für die Bespielung der Region? Was kann der herbst außerhalb von Graz umsetzen, das in der Hauptstadt nur schwer bis gar nicht zu verwirklichen scheint?
Natürlich gäbe es die Möglichkeit, beispielsweise eine kleine Grazer Theaterinszenierung auf den Hauptplatz nach Frohnleiten zu bringen, aber dann erfährt das Stück selbst als Grazer Produkt keinen Mehrwert, selbst wenn es die Gäste köstlich unterhält. Viel wichtiger ist es für uns, die Kultur und den Fingerabdruck der einzelnen Regionen in die dortigen Produktionen zu integrieren und diese dann im Anschluss auch nach Graz zu bringen. Wir wollen mit lokalen Institutionen in Kontakt treten und einen Austausch auf unterschiedlichen Ebenden anregen. Dieses Vorhaben steckt jedoch noch in den Kinderschuhen. Wir arbeiten heuer etwa mit der Gemeinde Puch bei Weiz an einem Projekt über die Steirische Apfelstraße. Es entsteht eine Arbeit für die Region, aber nicht nur für die lokale Bevölkerung, sondern – und das zeichnet das Projekt aus – auch für Menschen, die dort nur temporär, nämlich als Saisonarbeiter für die Apfelernte leben, denn auch sie sind Steiermark. Wir wollen somit die Regionen mit ihren Geschichten selbst zum Programm machen.
Nächstes Jahr feiert Graz das Kulturjahr 2020. Der steirische herbst wurde mit seinem eingereichten Projekt abgelehnt. Finde Sie es schade, dass das Festival offiziell nicht dabei ist?
Wir sind sehr gespannt, wie sich das Kulturjahr 2020 präsentieren wird, und freuen uns auf ein hoffentlich intensives und ereignisreiches Jahr zu Fragen der Urbanen Zukunft. Die Auswahl der Projekte lässt auf ein mitunter technologisch-wissenschaftliches Interesse schließen – die Kunst steht vielleicht nicht so im Vordergrund; aber das ist nur mein erster Eindruck. Den steirischen herbst wird es wie gewohnt geben. Für die Unterstützung der Stadt Graz sind wir sehr dankbar.