Experten sprachen über Zukunftsszenarien Post Script, KI als Weg zur Kreativitätssteigerung und Kostenwahrheit; Politiker über Vorbildwirkung von Graz, den Wunsch nach Beteiligung an und Verständnis für komplexe Stadtentwicklungsprozesse.
Text: Natalie Resch
Ein E-Book, das unsere „Gedanken liest“, indem es die Reaktionen der Augen auf das gerade Gelesene erfasst und sich daraus selbst generiert. Die Geschichte individualisiert weiterschreibt. Der Protagonist sind plötzlich wir, übernehmen unbewusst Verhaltensmuster des Protagonisten. Szenen eines Science-Fiction-Filmes? – Nein. Davon erzählte der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar in seiner flammenden Festrede zum Auftakt des Kulturjahres am 23. Jänner. Seinen Vortrag über Zukunftsszenarien widmet er seinem am 18. Jänner geborenen Enkel Emil – jener Generation, die in den kommenden 80 Jahren leben wird. Er lässt in den Köpfen des Publikums Visionen entstehen. Neonfärbig umrandet vom Ambiente des Stefaniensaals, der für die feierliche Eröffnung quer gedacht wurde; zumindest was die Raumnutzung dem Längsschnitt nach betrifft. Für die Organisation zeichnete das Team rund um Kulturjahr-Manager Christian Mayer zuständig.
Es sind kritische, glaubwürdige Perspektiven, die Yogeshwar auf die Zukunft wirft. Er stellt Fragen nach Privatheit und dem „gläsernen Menschen“, stellt kritische Vergleiche zwischen Unterhaltungssystemen wie „Alexa“ und Überwachungsmethoden der „Stasi“ an. Was bedeutet diese Kommunikation für das soziale Miteinander? Kehren wir durch die flächendeckenden Laptop-Schulklassen in das Vor-Gutenberg-Zeitalter „zurück“ und beginnt die Post-Script-Dekade?
ZEIT für Graz
Inhaltlich dicht war auch das Tagesprogramm des Symposiums, das von der renommierten „Zeit“ organisiert wurde. In 25-minütigen Panels sprachen Experten über Klima und Umwelt, Digitalisierung und Mobilität. Über alternative Arbeitsmodelle ohne streng hierarchische Ordnungen und demokratische Gehaltsräte, Urlaub, so viel man möchte, und persönliche Motivation sprachen Mimi Sewalski, Geschäftsführerin von Avocadostore, Deutschlands größtem Online-Marktplatz für nachhaltige Produkte. Elisa Naranjo, Head of Fairstainabilty bei einhorn products, erzählte von der Suche der Menschen nach Jobs, die Sinn und persönliches Identifikationspotenzial versprechen.
Klimakrisen und andere unbequeme Wahrheiten
Die Wahrheit ist meist unbequem, liegt nicht an der Oberfläche und ist komplex – lautet der verbindende Tenor der Podiumsgäste. Wirtschaftswissenschafter Hans-Werner Sinn plädiert für klare Einschränkungen der freien Marktwirtschaft, einen Klima-Club der Weltmächte und stellt klar: „Autos sind so sauber, wie ihr Strom“. Vor Kurzem ist eine Studie der FH Joanneum veröffentlicht worden: Der Break-Even eines E-Autos läge bei 219.000 gefahrenen Kilometern. Erst ab diesem Zeitpunkt würde das Elektroauto im Vergleich zu einem mit fossilem Brennstoff betriebenen Modell eine geringere C02-Produktion aufweisen. Das Problem sei der „C02-Rucksack“ der Batterien aus China. In Graz werde es einen Mix aus beiden Fahrzeug-Systemen geben – nicht als Antwort auf die Nachfrage, sondern weil die EU die Automobilhersteller mit hohen Strafen versieht.
Der Nachhaltigkeitsguru Daniel Dahm sprach vom blinden Fleck bestehender ökonomischer Systeme, denn sie betrachten nur das BIP, ohne den Verbrauch der lebensnotwendigen Ressourcen zu kalkulieren. „Was die Wirtschaft in den vergangenen 30 Jahren als Wachstum beschrieben hat, ist kein Wachstum, sondern Verbrauch.“ Er hielt ein leidenschaftliches Plädoyer für das produktive Streitgespräch und das Potenzial immaterieller Güter wie Kunst und Kultur für den Menschen als gestaltendes Wesen. Dass Kreativität kein rein maschineller Prozess, sondern zutiefst menschlich sei, davon sprach die einstige Mozarteum-Pianistin und nun erfolgreiche Unternehmensberaterin Seda Röder. Die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz würde zu einer grundlegenden Veränderung unseres Kulturverständnisses führen. Röder plädiert dafür, sich die Rechnungsleistung von KI zunutze zu machen. Sie arbeitet gerade daran, Beethovens unvollendete 10. Symphonie mithilfe KI zu vollenden.
Der Blick von außen
Niemand der Experten des Symposiums stammte aus Graz. Der Blick von außen ist wichtig. Die Internationalisierung ebenso. Die Übersetzung der globalen Themen in das Hier und Jetzt bleibt wohl den 94 Kulturjahrprojekten aus Kunst, Kultur und Wissenschaft über. Denn was sich Stadtrat Günter Riegler wünscht, ist ein „In-Kontakt-und-Beziehung-Treten mit den Menschen“. Das Kulturjahr sei dann erfolgreich, wenn gemeinsam ein Verständnis für die Zwiespälte der Stadtentwicklungen, die Herausforderungen bei Fragen des Zusammenlebens und mögliche Kompromisse entstehe. Die ersten Kulturjahrprojekte sind bereits seit 1. Jänner in vollem Gang. Was die Menschen über die Stadt denken, in welcher Verbindung sie zu ihr und den Mitmenschen stehen – das fragt The Graz Vigil von La Strada am historisch bedeutenden Ort, der Bürgerbastei, mit einer Stunde des aufmerksamen Wach-Seins.
Wie viel Sicherheit Bürger wirklich brauchen und ob Sicherheits- und Kontrollsysteme nicht gerade das Gegenteil bewirken, hinterfragt mit einem ironischen Unterton die Neigungsgruppe K.O. rund um Johanna Hierzegger, Markus Wilfling und Martin Behr mit 7.000 Pfeffersprays. Kunst war schon immer Waffe gegen vorgemeißelte Meinungen. Die ersten signierten Skulpturen wurden bereits am 23. Jänner verteilt. Wie das Pfefferspray ins Auge scheint das zu passen, wünscht sich Christian Mayer doch Projekte, die einerseits an die Grundfrage des Kulturjahres – „Wie wir leben wollen“ – heranführen, aber „nicht verschonen“. So war zum Auftakt auch das Breathe Earth Collective geladen, das ihr erstes Modell des Kunst-Klimapavillons, der sechs Monate lang am Grazer Freiheitsplatz zur grünen Oase wird, präsentierte. Die atmende Plattform mit Bäumen des Kärntner Stadionprojektes For Forest versteht sich als Einladung an die Bevölkerung, „gemeinsam eine Klimakultur zu etablieren, die es in dieser Form noch nicht gibt“, so Lisa Maria Enzenhofer vom Kollektiv. Großes hat sich auch Bürgermeister Siegfried Nagl mit dem Kulturjahr als „Brückenschlag zu 2003“ vorgenommen: „Als Städtchen einen Beitrag zu leisten, denn einiges auf unserem Planeten befindet sich in Schieflage“. Ein Kulturjahr voller Visionen.