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Gedankenexperimente im Feuerwehrmuseum

Wolfgang Temmel, ohne Titel (Haus), 2004 Foto: Anja Weisi-Michelitsch

Die Ausstellung „freispiel” von Wolfgang Temmel und Hubert Matt bietet bis 23. August 2020 im „Steirischen Feuerwehrmuseum Kunst & Kultur“ ein Eintauchen in einen fesselnden, umfangreichen und nicht zuletzt amüsanten Dialog zwischen zwei Multimediakünstlern.

Text: Lydia Bißmann

Die Tradition der Dialogausstellungen im „Steirischen Feuerwehrmuseum Kunst & Kultur“ hat dieses Jahr eine ganz besondere Erweiterung bekommen. In ­einem 360-Grad-Online-Rundgang können sich Besucher vorher schon im Netz Appetit auf die Zusammenarbeit von Wolfgang Temmel, der die Ausstellung als zeitgenössischer Künstler der Region bestreitet, und dem eingeladenen Gast Hubert Matt holen. Am ersten Tag der Veröffentlichung des Museumsrundgang durch die geschlossene Ausstellung in der Warteschleife wurden bereits über 250 Besucherklicks gezählt, mittlerweile sind es weit über 700. Einen persönlichen Besuch kann der technisch sehr sorgfältig und gut konsumierbar gestaltete Rundgang trotzdem nicht ersetzen.

Die Entdecker entdecken

Wolfgang Temmel studierte Malerei in Graz, hielt sich längere Zeit in New York und London auf und lebt heute in Wies. In seinem Werk bedient er sich Ausdrucksformen wie der Fotografie, Zeichnung, Installation und Malerei, aber lässt auch Sound, Video und die Zeit mit einfließen. Er wirkte beim steirischen herbst, im Forum Stadtpark und beim Kulturjahr Graz 2003 mit, stellte in Madrid, Berlin und Karlsruhe aus und gründete Bands mit den Namen „Bonsai Gardens Orchestar” und „Lenins Wheelchair”. Als Ausstellungspartner hat er sich den Vorarlberger Künstler und Philosophen Hubert Matt ausgesucht. Matt unterrichtet seit 2000 im Studiengang InterMedia der FH Vorarlberg und ist mit Temmel schon seit seiner Kindheit befreundet. Nach einem Studium der Kunstgeschichte und Philosophie in Innsbruck arbeitet er als Kurator von Themenausstellungen und Symposien und widmet sich vor allem künstlerischen Fragestellungen zwischen Text, Bild und Objekt. Die Beiträge des Künstlers, der nur selten unterwegs ist, sind für die Ausstellung freispiel teilweise eigens auf den Ausstellungsort zugeschnitten. Sogar ein 309 Seiten dicker „Atlas” über Groß St. Florian ist aus seinem mehrtägiger Aufenthalt in der Südweststeiermark entstanden.

V.l.: Hubert Matt, Wolfgang Temmel und Kuratorin Anja Weisi Michelitsch

Die Ausstellung ist mehrschichtig aufgebaut und hat eine Fülle von unterschiedlichsten Stimulationen zu bieten. Dabei ist sie keine Sekunde langweilig oder anstrengend. Spielerisch und keck regt sie zum Nach- und Vordenken an und nimmt Auge und Hirn gleichermaßen an die Hand, um sie auf einen abenteuerlichen Spaziergang durch die Gedankenexperimente der beiden Künstler einzuladen. Wie Wissenschaftler sezieren und beobachten beide auf ihre Art den Alltag und präsentieren die daraus entstandenen Ergebnisse in Form von Kunstwerken.

Ausgangspunkte für Gedankenspiele

Den Auftakt gestaltet eine Installation zum Koordinatensystem. In drei Bildern werden hier die Achsen X, Y und Z von Hubert Matt dargestellt und bekommen jeweils eine eigene Aufgabe zugeschrieben. Ganz am Anfang der Schau bekommen die Besucher damit eine Art Gebrauchsanweisung in die Hände, mit der sich die Dialogausstellung betrachten lässt. Egal welches Thema behandelt wird – vom Universum über Lichtjahre oder winzig kleine Insekten – Wolfgang Temmel und Hubert Matt suchen sich immer einen Punkt aus, von dem sie dann eine gedankliche Linie zum Resultat ziehen. So hat sich Matt in seinem Zyklus Malen nach Zahlen (2020) zum Beispiel einen Zeitrahmen von 14 Wochen ausgewählt, in dem er Lotto gespielt hat. In Bildern hat er dann geometrisch das Lieblingsspiel der Österreicher dargestellt und die tatsächlich gezogenen Zahlen mit den gesetzten Zahlen in eine Beziehung zueinander gebracht. Dieser verspielte Umgang mit Wahrscheinlichkeit und auch Wunderglauben, den Lottospielen immer mit sich bringt, tritt dann in sieben Bildtafeln auf, auf denen die scheinbar zufälligen Linien eine Geschichte dahinter bekommen. Ebenfalls mit abstrakten Formen agiert daneben Wolfgang Temmel in seinen Bildern Moralischer Konstruktivismus aus dem Jahr 2015. Bunte Quadrate auf grauem Hintergrund haben auch hier eine ganz spezielle Entstehungsgeschichte. Sie sind nichts anderes als Zensurstreifen über den Brüsten und dem Schambereich einer Frau, die in einem Bild daneben die Auflösung anbietet.

Von Ibiza nach Island bis Groß St. Florian

Zwei Schottenkaros sind dem Feuerwehrmuseum und den Herkunftsländern von Urlaubern auf Ibiza gewidmet. Das jeweilige Muster im Tartan entsteht aus einem bestimmten Regelwerk von Wolfgang Temmel. Schülergruppen, Kindergeburtstage, Feuerwehrgruppen, Besucher aus Italien oder Deutschland bekommen in einem Kreisdiagramm Farben verliehen und tauchen je nach Häufigkeit mehr oder weniger dick oder dünn in dem traditionellen Stoffmuster auf.

Hubert Matt, „GOTT“, 2020

Einen tieferen Blick in die Arbeitsweise und die Intention bietet seine Arbeit Kunstwitz (2010), zu der Temmel auch einen längeren Text verfasst hat. Hier hat er der Darstellung eines modernen und abstrakten Kunstwerkes in einem Zeitungscartoon einfach ein 170 mal 120 Zentimeter großes Eigenleben aus Acryl auf Leinwand verpasst. Nur die Objekte oder Subjekte, die in einem Kunstwerk dargestellt werden, benennen und zuordnen können, heißt für ihn noch lange nicht, das Kunstwerk zu verstehen. Für Verständnis braucht es einen Ansatzpunkt, in der eigenen Biografie oder in der Geschichte der sozialen Umgebung. Temmels Videoinstallation von isländischen Bürgerinnen und Bürgern, die für eine Melodie jeweils einen Ton einsingen, ist hierfür ebenfalls ein wunderbares Versprechen. Das daraus entstandene Lied weckt in jedem andere Erinnerungen und Assoziationen. Island als das Land der Elfenministerien und Island als das Land, das Österreich 2016 aus der Fußball-Europameisterschaft gekickt hat.

Wolfgang Temmel, „Insekten“, 2017/2020

Neues und Altes entdecken

Und so fühlt man sich als Besucher in dieser Ausstellung liebevoll an die Hand genommen und mitgenommen auf eine Reise der Antworten. Antworten auf die Frage, wie man sich in der modernen Welt zurechtfinden oder auch verlieren kann. In jedem einzelnen Exponat finden sich Ansatz- und Ausgangspunkte für das Verstehen. Für das Begreifen der inneren Welt oder auch von globalen Zusammenhängen. Eine Holzskulptur von Matt, die aus einem Möbelstück und zwei Bildern das Wort Gott formt, scheint hier auch für Atheisten eine beruhigende Botschaft zu vermitteln. Abgesehen von jeder Spiritualität schafft es der Betrachter, dieses optische Rätsel in Sekunden zu lösen und freut sich über den Erfolg. Eine überdimensionale, geografische Landkarte des Kontinents Südamerikas bietet in der Arbeit Kontinent (1986) einerseits Vertrautes, gleichzeitig Verblüffendes, da die Gewässer die Namen von Autoherstellern tragen und Gebirgszüge wie die Anden nach Modemarken benannt sind. Einzelne Berge heißen E. ­Jelinek, F. Kafka oder M. Frisch, Städte tragen Blumennamen. Ein Globus besteht ausschließlich aus der Karte von Groß St. Florian. Keinen vorgegebenen Titel braucht das Bild eines „nackten” Hauses ohne Fenster und Türen, dessen traurige Bedeutung wohl aktueller denn je ist. Indem die beiden Künstler Bekanntes und Gewohntes mit neuen oder zufälligen Bedeutungen versehen, schenken sie Vertrauen und wecken gleichzeitig die Lust am Beobachten, Interpretieren und Entdecken. Die Kunst und das eigene Leben.

Wolfgang Temmel, „Kontinent“, Universalmuseum JOanneum, Neue Galerie, 1996

Five at Five o‘clock

Für alle, die im Mai im „Steirischen Feuerwehrmuseum Kunst & Kultur“ in Groß St. Florian die sehr umfangreiche Ausstellung besuchen wollen, ist eine Anmeldung erforderlich. Um 17 Uhr sind fünf Personen zu einer Besichtigung zugelassen. Erweiterte Öffnungszeiten ab Juni können der Website entnommen werden.       

freispiel: Wolfgang Temmel und Hubert Matt

bis 23.8.2020, Di–So 17 Uhr

Steirisches Feuerwehrmuseum Kunst & Kultur, Marktstraße 1, 8522 Groß St. Florian, Erreichbar vom Grazer Hauptbahnhof mit der S 6, Tel. 03464 8820, 0677 633 722 00

www.feuerwehrmuseum.at