Medienkünstler und Dobrowolski-Preisträger Winfried Ritsch (IEM) und Musiker Dimitrios Polisoidis (PPCM) erzählen für „Achtzig“ von der Neuentwicklung eines exakt auf die Anforderungen des Klangforum Wien und seines PPCM-Studienganges abgestimmten virtuellen Proberaumes an der KUG.
Die faszinierenden Möglichkeiten von Raumklang- und 3-D-Audio-Entwicklungen sind ein bedeutender Forschungsbereich am KUG-Institut für elektronische Musik und Akustik (IEM). Was hier nach eher abgehobenen Forschungsfragen klingt, wurde in Zeiten der COVID-19-Pandemie zur ganz realen Problemstellung: Musikerinnen und Musiker, die gemeinsam in einem Ensemble spielen, saßen plötzlich – rund um die Welt verstreut – fest. Ihnen war nicht nur vielfach jedes Einkommen abhandengekommen, sondern auch die Möglichkeit, gemeinsam zu proben. Für den Gruppenunterricht im Rahmen des Studiengans Performance Practice in Contemporary Music (PPCM) wurde nun am IEM unter der Leitung von Winfried Ritsch (gerade eben mit dem Andrzej-Dobrowolski-Kompositionspreis des Landes Steiermark ausgezeichnet) ein virtueller Proberaum entwickelt, der es möglich machte, sich auch in dieser Situation zum Musizieren in einem gemeinsamen akustischen Raum zu treffen. Und so könnte der Virtual Rehearsal Room bald Eingang in die musikalische Praxis finden – auch nach Corona.
Wie kam es zur Idee für dieses Projekt?
Polisoidis: Es hat sich in der aktuellen Situation sehr schnell herausgestellt, dass herkömmliche Konferenz-Tools wie Skype oder Zoom (vor allem aufgrund der mangelhaften Klangqualität) für den musikalischen Unterricht ungeeignet sind – für den Einzel- und erst recht für den Gruppenunterricht wie bei PPCM. Zugleich war unklar, wie lange die Ausnahmesituation dauern würde. Daher habe ich mich an Winfried Ritsch gewandt, weil ich wusste, dass er uns hier helfen kann.
Ritsch: Dimitrios Polisoidis vom Klangforum Wien hat mich angesprochen, weil er meine Streaming-Projekte aus früheren Jahren kannte und sich vorstellen konnte, dass eine ähnliche Software für die durch das Corona-Virus notwendigen Video-Proben im Rahmen von PPCM genutzt werden könnte. Diese Projekte aus dem akademischen Bereich skalieren aber aufgrund der Situation zu Corona-Zeiten nicht wirklich, da ja die Musikerinnen und Musiker zu Hause mit oft karger Internet-Anbindung, bescheidenen Computern und kleinem Platzangebot arbeiten müssen. Da ich gerade für das Kunsthaus Graz „open source Streaming Boxes“ für ein Kunstprojekt von Bill Fontana gebaut habe (DIYasb – DoItYourself audio streaming box) und Streaming-Lösungen über Funkfeuer entwickelte, konnte ich mir vorstellen, diese Technologie dafür zu nutzen. Im Endeffekt ist es aufgrund dieser Anfrage am IEM mit Unterstützung des Zentralen Informatik Dienst (ZID) der KUG zur Entwicklung einer gänzlich neuen Streaming-Software gekommen.
Wie können wir uns die Funktionalität dieser Software vorstellen?
Ritsch: Unsere Software und die vom IEM zur Verfügung gestellte Hardware ermöglichen den Teilnehmenden mit einfacher Ausrüstung von zu Hause aus einen virtuellen Proberaum zu betreten. Dieser Proberaum bietet eine gemeinsam erlebte virtuelle Akustik, parallel kann über Video auch auf visueller Ebene Konferenz- Software benutzt werden. Das alles ist selbst mit einer einfachen Internetverbindung möglich – die Musiker sind ja derzeit über die halbe Welt verstreut und nicht überall ist das Netz entsprechend ausgebaut. Benötigt werden nur ein gutes Mikro und eine gute Soundkarte sowie der private Rechner.
Was sind die Besonderheiten dieser Neuentwicklung gegenüber bestehenden Angeboten?
Polisoidis: Das nun entstandene Tool bringt eine 100%ige Verbesserung! Die Situation ist mit einem Studio zu vergleichen, der Lehrende sitzt sozusagen mit dem Tontechniker im Cockpit und kommuniziert über Zuschaltung mit den Studierenden im Raum. Die Klangqualität ist sehr viel besser als üblich. Es ist also das perfekte Tool für uns – obwohl eine Low-Budget-Lösung. Ich bin mir sicher, dass diese Entwicklung auch über die Corona-Zeit hinaus Anwendung finden kann.
Ritsch: Ein entscheidender Punkt, der hier wirklich passen musste, ist die Lautstärkeregelung. Es ist ein Proberaum für ein Ensemble mit akustischem Instrumentarium, das im gemeinsamen Raum gleichrangig darzustellen ist, die Klangdynamik wird hier durch den Dirigenten kontrolliert – nicht von der Tontechnik mit Automatic Gains oder durch eine Software, die alles vereinheitlicht. Die besonderen Gegebenheiten dieses Neue-Musik-Ensembles stehen im Zentrum, weil es eben keine kommerzielle Forschung ist, sondern ein gemeinsam entwickeltes Projekt zur Erschließung der Künste. Das Projekt und seine Vorläufer wurden im Diskurs entwickelt, Christof Ressi war da z. B. stark eingebunden. Und wenn wir daraus später ein allgemein nutzbares Produkt entwickeln wollen, kommt der Augmented Practice Room von Matthias Frank ins Spiel und als Technologie HOAST (Higher Order Ambisonics Streaming). Wir profitieren natürlich von Vorarbeiten, die in meinem Fall bis zu meinem ersten Streaming-Konzert von 1989 in der Prä-Internet-Ära und der virtuellen Concert Hall sowie den Netzwerkkonzerten 2003/2009 zurückgehen.
Worin liegt der Nutzen dieses Projekts abseits des Anlassfalls „Corona-Krise“?
Ritsch: Unser Projekt zielt auch darauf ab, Musikern beizubringen, wie sie virtuell arbeiten können. Das ist eine zunehmend wichtige Kompetenz, aber zugleich eine Anforderung, der sich viele außerhalb der Corona-Situation nicht wirklich stellen wollten. Polisoidis: Der virtuelle Proberaum kann zwar kein echter Ersatz für die gemeinsame Probe in physischer Präsenz sein – denn im Regelfall proben wir ja auch für einen echten nichtvirtuellen Auftritt. Aber gerade in der Neuen Musik werden neue Technologien dieser Art auch künstlerisch immer wichtiger. Diese Technologien sind natürlich der Schnittpunkt unserer Arbeit mit der des IEM, das sofort diese Idee des Virtual Rehearsal Room als Forschungsprojekt aufgenommen und uns sehr unterstützt hat!
[…] 8. Kunstuniversität Graz: Ein virtueller Proberaum für Neue Musik […]
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