Die Oper Graz startet im September nach der Corona-Zwangspause in die neue Spielzeit. Ein Gespräch mit Intendantin Nora Schmid über Herausforderungen im Pandemiejahr, den gesellschaftlichen Wert von Kunst und Kultur und den Saisonstart.
Text: Stefan Zavernik
Der Kulturbetrieb war in den letzten Monaten nur sehr eingeschränkt möglich. Wie sehr hat die Kunst unserer Gesellschaft gefehlt?
Es war für mich spürbar, dass den Menschen etwas fehlt. Kunst und Kultur führen die Menschen zusammen. Die körperlich notwendig gewordene Distanz im Zuge der Pandemie hat sich schlussendlich auch emotional bemerkbar gemacht. Ich selbst hatte aus verschiedenen Gründen eine ganz große Sehnsucht nach dem Liveerlebnis mit Kunst und Kultur: Ich möchte mich emotional berühren, mich geistig herausfordern lassen und mich nach den letzten Monaten wieder wahnsinnig gerne auch mit anderen Themen außer dem Corona-Virus auseinandersetzen.
Lange Zeit war ungewiss, wann der Spielbetrieb wieder möglich werden würde. Dann musste alles relativ schnell gehen. Wie schwierig war es unter diesen Voraussetzungen, die Saison zu planen und schlussendlich mit deutlich weniger Vorlaufzeit auf Schiene zu bringen?
Mit dem Lockdown kam zuerst eine große Ungewissheit. Als uns aber die Möglichkeit geboten wurde, für ein kleines Publikum zu spielen, haben wir das sofort genützt und als erste Oper in Österreich unsere Tore wieder geöffnet. Für uns war von Anfang an klar, dass wir spielen werden, sobald wir dürfen. Für die nun neue Spielzeit stand der Spielplan natürlich bereits vor dem Lockdown fest. Wir haben diesen dann adaptiert und im Laufe der letzten Monate oft umgeplant. Es ist demnach in der aktuellen Saison nicht alles so, wie es ursprünglich konzipiert war; wir holen ausgefallene Aufführungen nach und haben gewisse Programmpunkte neu gestaltet, wie etwa das Eröffnungskonzert.
Wie diffizil wird die neue Spielzeit nun in ihrer Umsetzung?
Wir haben ein gutes und ausgefeiltes Präventionskonzept, ein Leitsystem für das Publikum, sowohl beim Eingang als auch bei den Garderoben und Bars. Das ist zwar alles etwas ungewohnt, aber ich bin zuversichtlich, dass die Saison so gut starten kann. Da die Platzkapazität stark reduziert wurde, bestuhlen wir den Saal im Schachbrettmuster; besetzen also nur jeden zweiten Platz. So kann genügend Abstand zwischen den Gästen gewährleistet werden. Da wir auch ein sehr großes Haus sind, gibt es ein ausreichend großes Luftvolumen, sowohl im Saal als auch in den Foyers.
Wie schätzen Sie den Andrang auf die kommenden Vorstellungen ein? Denken Sie, dass es möglich wäre, dass das Virus den Menschen die Lust auf Kunst und Kultur verdorben hat? Wie ist der Kartenvorverkauf bisher gelaufen?
Ich glaube nicht, dass die Menschen keine Lust mehr auf Kultur haben, aber womöglich noch etwas unsicher und zögerlich sind. Der Vorverkauf läuft dennoch gemäß unseren Erwartungen. Wir starten am 5. und 6. September mit der Bühnenshow, die wir wegen der geringeren Platzkapazitäten bewusst vier- statt dreimal spielen und es scheint auch großes Interesse an Anatevka und der Passagierin zu geben, die ja beide thematisch aktueller nicht sein könnten.
Eröffnet wird die Spielzeit mit Mieczyslaw Weinbergs Oper „Die Passagierin“. Nicht nur wegen dem erst kürzlich geschehenen Anschlag auf die Synagoge in Graz strotzt diese Aufführung vor Aktualität. Mit welchen Erwartungen blicken Sie der Premiere entgegen?
Ich blicke der Premiere mit einer sehr großen Spannung, mit Freude aber auch mit einer gewissen Nervosität entgegen. Dieses Stück hat es vor dem Lockdown bis zur Generalprobe geschafft, hat uns alle täglich gefordert und uns manchmal emotional an unsere Grenzen gebracht.
Die Oper thematisiert schonungslos den Schmerz und das Grauen von Auschwitz, verpackt in eine persönliche Geschichte. Wie gelingt es, das richtige Maß zwischen Nähe und Distanz, zwischen Tabu, über das man schweigt, und Realität auf die Bühne zu bringen?
Hier muss man zwischen dem Stück an sich und der Inszenierung unterscheiden. Es ist kein Stück, das kategorisch wertet. Die Autorin Zofia Posmysz hat in ihrem Roman Die Passagierin – die Grundlage zu Weinbergs Oper – ihre eigenen Erlebnisse als Inhaftierte in Auschwitz in Literatur überführt. Allerdings nimmt sie die Perspektive der Täterin ein. Dafür wurde sie heftig angefeindet. Die frühere KZ-Aufseherin Lisa will ihre dunkle Vergangenheit hinter sich lassen, als sie mit dem Schiff über den Ozean fährt, um in Südamerika mit ihrem Mann ein neues Leben anzufangen. Doch dann meint sie auf die Auschwitzüberlebende Marta zu treffen und alle Erinnerungen sind auf einen Schlag wieder da. Wir werden in diese Geschichte hineingezogen, sodass sich jeder die Frage nach der eigenen Verantwortung stellen muss: Wie hätte ich gehandelt? Den Befehl ausgeführt? Mich widersetzt? Das sind sehr komplexe Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Nadja Loschky, die Regisseurin, hat dies virtuos und klug aufgearbeitet: Ihre Inszenierung bildet keinen Realismus ab, sondern bringt verschiedene Erinnerungs- und Begegnungsräume auf die Bühne. Auch unsere Produktion Anatevka könnte nicht aktueller sein: Im vermeintlich leichten Genre des Musicals bewegen wir uns im Spannungsfeld von Tradition und Fortschritt und erleben Schicksale, die von dringlichen Problemen auch unserer Zeit geprägt sind: Vertreibung, Flucht und Intoleranz.
Ein weiteres großes Highlight in dieser Spielzeit wird „Madame Butterfly“ von Puccini werden. Mit dem Regisseur Floris Visser und dem Dirigenten Francesco Angelico feiern gleich zwei bedeutende Persönlichkeiten ihren Einstand an der Oper Graz. Was kann sich das Publikum erwarten?
Floris Visser ist durch und durch ein Mann des Theaters. Er ist bekannt für seine sehr packenden und berührenden Inszenierungen. Auch auf Francesco Angelico freue ich mich sehr, der für dieses Stück erstmals nach Graz kommt. Insgesamt ist es ein sehr vielversprechendes Konzept, das das gemeinsame Kind von Butterfly und Pinkerton mehr in den Fokus rückt als sonst und dieser Geschichte noch einmal eine andere Perspektive verleiht als die, die man vielleicht gewohnt ist. Dazu kommt ein wunderschönes Bühnenbild von Gideon Davey, durch das alles noch mehr zum Leben erweckt wird. Es ist eine Kombination aus dem Zauber des Theaters, aus der Musik des Verismo und einer Geschichte, die zeitlos berührend ist.
Mit „Der fliegende Holländer“ steht auch Wagner am Spielplan der neuen Saison. Wird es eine klassische Inszenierung?
Es ist schwer zu sagen, was eine klassische Wagner-Inszenierung ist, man kann jedoch Figuren in historischen Kostümen unglaublich modern agieren lassen. Sandra Leupold ist eine ausgezeichnete Regisseurin, sie ist Faust-Preis-Trägerin und wurde mehrmals als die beste Opernregisseurin nominiert. Ich glaube, sie kennt jeden Satz in den Wagner-Schriften. Mit diesem Wissen schafft sie es, eine unglaublich dichte Inszenierung zu erarbeiten.
Roland Kluttig tritt zum Saisonauftakt mit gleich zwei Aufführungen seine neue Funktion als Chefdirigent der Grazer Philharmoniker an. Wie würden Sie seine Handschrift als Dirigent beschreiben und warum ist er der geeignete Nachfolger für Oksana Lyniv?
Roland Kluttig war schon bei zwei Inszenierungen bei uns zu Gast, das waren Ariane et Barbe-Bleue und Król Roger. Es sind zwei Werke, die einen gewissen Klangzauber entwickeln, aber zugleich auch von einer musikalischen Analysefähigkeit leben. So habe ich Roland Kluttig auch erlebt und ihn kennengelernt. Er hat außerdem einen sehr weiten musikalischen Horizont und breite Interessen, was für einen Chefdirigenten sehr wichtig ist. Ich freue mich auf die Arbeit mit ihm im Team!