Als ich vor mehr als dreißig Jahren, an einem lichtdurchfluteten Junitag, mit dem Zug in die Steiermark kam, hatte ich nicht die leiseste Ahnung von der deutschen Sprache. Geschweige denn von der steirischen … Sprache.
Text: Rafael Catalá
Ich zählte während der Reise die Buchstaben des jeweils längsten Wortes, das ich lesen konnte, um die Wette. Und ich war sehr erstaunt. Wie um Gottes willen kann man solche unendlichen Wörter aussprechen? Damals wusste ich natürlich noch nichts von den steirischen Kurzfassungen, die auch in anderen Belangen meines Lebens später sehr hilfreich geworden sind. Ich habe davor studienbedingt in Barcelona und Paris gelebt, und die Stille, diese Stille, die ich dort immer vermisst hatte, fand ich hier. Zuerst in Graz, als Masterstudent an der Kunstuniversität, später in Seggauberg bei Leibnitz. Als Musiker, Vater, Häuslbauer, Schwiegersohn, Jahreszeitenentdecker, halluzinierender Onomatopöie-Bewunderer …
Erkenntnis: Die Steiermark hat die besten Ärzte
Als Student an der KUG war ich Stipendiat des Österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und musste mich einer Gesundenuntersuchung unterziehen. Als plötzlich nach langer Wartezeit in der Ordination der Arzt wie herbeigebeamt mit einem schmalen Reagenzglas vor mir stand und sagte: „So, jetzt machma a Hoarnanalyse!“, war ich sehr erstaunt. Ich dachte: „Wow, er hat mich gerade gesehen und glaubt schon zu wissen, dass ich unter Haarprobleme leide. Unglaublich.“ Diese Gedanken waren gleichzeitig mit meinen Bemühungen synchronisiert, mir ein paar Haare von meinem Kopf auszuzupfen, und dem Versuch, sie in das Röhrchen zu stecken. Das Ergebnis: der Arzt wirkte total verdutzt. Ich dachte, er sei womöglich böse, weil ich zu wenig Haare in das Reagenzglas gegeben hatte. Aber nein, denn dann schrie er: „Eine Urinanalyse!“. „Ach so!“ entgegnete ich, „in Spanien bekommen wir dafür ein großes Gefäß, so ungefähr …“ (mit beiden Händen gestikulierend aus Wortmangel). Gut. Und was hat diese Geschichte mit dem Kulturpanorama in Leibnitz und der Südsteiermark zu tun? Nichts. Oder doch, vielleicht wird dadurch die Faszination, die etwas Alltägliches bei einem Neuling verursacht, besser deutlich. Manche Traditionen, Brauchtümer, Gebäude, künstlerische Darbietungen oder kulturelle Ereignisse, mit denen man aufgewachsen ist, werden neu aufgewertet, indem sie dem erstaunten Blick eines „nicht Nativen“ unterworfen sind.
Erkenntnis: Die Steirer haben drei Füße
Zum Beispiel, dass Leibnitz eine langjährige Jazztradition hat, von Stadtsohn Sigi Feigl initiiert, und das Jazzfestival internationale Relevanz unter den Fittichen von Otmar Klammer erreicht hat. Oder dass ein anderer prominenter Stadtsohn, auch bestimmt dreifüßig, wie Sir Oliver Malli, in Leibnitz die Bluestage gegründet hat und … Moment. Dreifüßig? Mein Kenntnisstand: Die Beinteile Oberschenkel, Unterschenkel und Fuß gehören in der Steiermark zur Schulausbildung. Und bleiben für immer dort, theoretisch und virtuell. Es war vor Jahren, ein Student rief mich an und sagte: „Ich kann net zum Gitarrenunterricht kommen, weil ich mir den Fuaß brochen hob.“ Ich sagte ihm, wenn es nur der Fuß ist, können wir es trotzdem versuchen. Kurz danach erschien er mit einem Gips von der Hüfte bis zu den Zehen, steif wie ein Stock, worauf ich fragte: „Hast du nicht gesagt, der Fuß?“ Seinen irritierten Blick, zu seinem Bein gerichtet, habe ich später oft erlebt, als er antwortete: „Ja, eh, der Fuß.“
Erkenntnis: Die Ureinwohner Englands waren Steirer
Etwas außerhalb des Stadtzentrums finden wir das Naturparkzentrum Grottenhof, wo die Urquelle der Südsteiermark in Ausstellungen thematisiert wird. Die Urquelle? Redet man in der Südsteiermark mit den Menschen, hat man als Nicht-Hiesiger den Eindruck, diese Sprachonomatopöie von woanders zu kennen: dieses in die Sterne nach oben gajaulte „ou“, die Zunge für das gutturale „l“ auf speläologische Reise in die Gurgel zu schicken. Genau. England. Dort sind die Ursprünge. Ganz sicher.
Erkenntnis: Bei uns ist das so
Würde man Richtung Süden einen millenarischen Stein aus dem Tempelmuseum in Frauenberg werfen, würde er bei der Südsteirischen Weinstraße landen, um dann auf und ab weiter in die Hügellandschaft wie auf dem Rücken eines Drachen zu rutschen, der die preisgekrönten Weine trinkt und die Spezialitäten der Buschenschänken speist. Hoch über Leibnitz wacht das Schloss Seggau. Mein Schloss. Dort finden in Anwesenheit großer Persönlichkeiten Tagungen und Seminare statt. Und auch dort – wo sonst – werden fünf Mal im Jahr die Seggauer Schlossmatineen zelebriert. Die Konzerte werden in den Fürstenzimmern, den Gewölbekellern und in den 350 Jahre alter Weinkellern aufgeführt.
Ich bin der künstlerische Leiter und Initiator dieser Konzertreihe. Wahrscheinlich weil ich weltberühmt in der Südsteiermark bin – dreifüßig wie meine prominenten KollegInnen bin ich mit der Zeit auch fast geworden, fast –, hat man meine Idee aufgegriffen, über das ganze Jahr hochkarätige Musik in Leibnitz anzubieten. So hochkarätig, dass immer mehr Publikum aus Graz zu uns kommt. Die Liste hochrenommierter KünstlerInnen wächst Jahr für Jahr und die internationale Anerkennung der Matineen ist mit ihnen immer größer geworden. Vor vielen, vielen Jahren war ich der Erste, der die „Idee“ hatte, in dem noch nicht renovierten Thronsaal der Fürstenzimmer, wo jetzt Konzerte stattfinden, zu heiraten. Der Schlossverwalter damals verblüfft zu mir: „Des hamma noch nie g’mocht.“ Versuchen Sie, jetzt einen Termin für eine Hochzeit im Schloss zu bekommen …
Ja, bei uns ist das so. Zuerst mal dreifüßig in den Himmel unser Erstaunen über das Leben jaulend zu verkünden, um nachher das lebenswerteste, grünherzigste Paradies daraus zu machen. Nicht umsonst schaut die ganze Medizin- und angelsächsische Welt mit Bewunderung auf uns.
Rafael Catalá ist gebürtiger Spanier, anerkannter Konzertgitarrist und Komponist. Er organisiert unter anderem die Konzertreihe der Seggauer Schlossmatineen.