Start Featureshome Was ist heute „normal“ an der Peripherie?

Was ist heute „normal“ an der Peripherie?

Durch die „School for Civic Action” soll es möglich gemacht werden den Andritzer Hauptplatz aktiv mit-, um- und neuzugestalten

Der Bauboom in Randbezirken von wachsenden Städten führt oft zu Verlust der sozialen Strukturen. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, riefen Barbara Holub und Paul Rajakovics das Projekt „NORMAL × 4 – Direkter Urbanismus“ ins Leben.

Text: Yasmin Al-Yazdi

Obwohl die Mehrheit der städtischen Bevölkerung in Außenbezirken lebt, lassen diese wenig Verbindung zu den Stadtentwicklungskonzepten erkennen. Dies hat zur Folge, dass sich einstige kulturreiche Gebiete mit Individualität zu charakterlosen, undefinierten Stadträndern entwickelten. Barbara Holub (Künstlerin) und Paul Rajakovics (Architekt) erarbeiten als transparadiso in Kooperation mit den Künstlerteams public works/London, orizzontale/Rom und Georg Winter/Saarbrücken durch künstlerische-urbanistische Methoden Neuansätze für die Stadtplanung von vier Grazer Randbezirken – Andritz, Waltendorf, Liebenau und Wetzelsdorf. Der geschichtliche Hintergrund dieser Bezirke, mit welchem sich die Teams im Zuge dessen auseinandersetzten, veranschaulicht, wie sehr sich diese über die Zeit veränderten und von der Stadtplanung ausgenommen wurden. Die verwendeten Strategien dienen der Wiederherstellung einer Neuinterpretation des Charakters dieser periurbanen Räume und sollen zu einer besseren stadträumlichen Eingliederung der Orte führen und gleichzeitig die Bevölkerung aktiv in die Gestaltung miteinbeziehen.

Das ist NORMAL

In Waltendorf – transparadiso nahm sich des Bezirks selbst an – wird auf dem Parkplatz der Pfarre St. Paul in der Eisteichsiedlung am 3. und 4. Juli 2021 der sogenannte Third World Congress of Missing Things veranstaltet. Anders als bei einem herkömmlichen Kongress wird hier nicht mit Podium und Publikum gearbeitet, sondern auf eine non-hierarchische offene Diskussionssituation gesetzt. Die „Missing Things“ stellen die „fehlenden Dinge“ unserer Gesellschaft und unseres urbanen Zusammenlebens dar und sollen von den Teilnehmern eigens interpretiert werden. Dadurch wird herausgearbeitet, was diese in einem gesellschaftlichen Zusammenleben als „normal“ erachten, und zeitgleich wird so auch Visionen Raum gegeben, welche als „nicht normal“ abgewertet werden, da sie beispielsweise als nicht realisierbar gelten. Diese Idee basiert auf dem Prinzip des „direkten Urbanismus“, welcher künstlerische Strategien und urbane Interventionen in die Planungsmethode der Stadtentwicklungsprozesse einbindet. Geprägt wurde der Begriff von transparadiso selbst.

Ein Platz von allen für alle

 Georg Winter verknüpft Landwirtschaft mit Tanz

Das Architekten-Künstler-Team public works hat es sich schon lange zur Aufgabe gemacht, gesellschaftliche Strukturen zu überdenken, öffentlichen Raum zu schaffen und so das öffentliche Leben umzugestalten. Sie arbeiten mit spielerischen Methoden, um so die Bevölkerung der jeweiligen Stadt miteinzubeziehen und deren Engagement anzuregen. In Andritz veranstalteten sie dafür im Mai 2021 ­PLATZEN – School for Civic Action, eine allen Altersgruppen zugängliche Freiluftschule. Diese Schule arbeitet nach einem pädagogischen Experiment, welches die Bewohner am Schaffensprozess einer Stadt beteiligt und so gleichzeitig allgemein geltende disziplinäre Einschränkungen infrage stellt. Dadurch werden Bewohner, Experten, Außenstehende und Insider zu Gastgebern eines diskursiven Raumes, der es erlaubt, den Hauptplatz wandelbar und überraschend zu gestalten, und man nimmt gleichzeitig Rücksicht auf die Bedürfnisse seiner Nutzer selbst.

TanzPflanzPlan

Welche Rolle können Nutzpflanzen für das gemeinsame Wohnen in der Zukunft spielen? Dieser Frage ging Georg Winter im Bezirk Wetzelsdorf seit dem Frühjahr 2020 nach. Seine Idee war, auf einer rund 1.000 m2 großen Anbaufläche landwirtschaftliche Handlungsformen mit künstlerisch-performativen Mitteln zu verbinden. Dafür schloss er sich mit einem Team aus Künstlern und Promenadologen ebenso zusammen wie mit der Landwirtschaftlichen Fachschule Grottendorf und dem Biogärtner Johannes Pelleter. Sie schufen die sogenannte „Wetzelsdorfer Drehung“, eine Choreografie, welche den Anbau von Nutzpflanzen in einem Schwellenland zwischen ruralen und urbanen Landschaftsformen und deren Bearbeitung, also säen, pflegen, ernten, in einen künstlerischen Rahmen setzt. Dies steht für ExpertInnen sowie Bewohne­rInnen gleichermaßen offen, um so auf ungewöhnliche und neue Formen des Zusammenlebens zu stoßen und offene Formen zu erproben. Für den bildenden Künstler Georg Winter haben Gebäude, Park und Landschaft ihre geplante Bedeutung verloren und „ihre Aufgaben vergessen“. Deshalb sind für ihn Schwellenräume für künstlerische Arbeiten an einem gesellschaftlichen Zustand ideal, um neue Aufgaben für diese zu finden.

Stadtflucht

orizzontale, ein Architektenkollektiv aus Rom, ging in Liebenau einem anderen Ansatz nach als die anderen Teams. Ihr Augenmerk liegt darauf, verworfene und ungesehene Bilder einer Stadt Form und Raum zu geben. Im April 2021 wird orizzontale deshalb am neuen Strand am Grünanger in Liebenau in Zusammenarbeit mit dem Jugendzentrum und Stadtbewohnern Möglichkeiten eines „Urban Commons“ erforschen. Dafür entwarfen sie das Projekt FlussFluss, ein Archipel, verbunden mit einem Betonpier in Liebenau. FlussFluss ist als Raum gedacht, in dem man vorübergehend Schutz vor der Stadt suchen kann, es einem möglich ist, seine Umgebung neu zu betrachten, und wo Raum geboten wird, sich zu transformieren. Das Projekt ist an den Film Castaway on the Moon von Lee Hae Jun angelehnt, in welchem ein junger Mann von einer Brücke springt, dann aber durch den Schutt der Stadt über Wasser gehalten wird. Jede Insel des Archipels hat öffentlichen Charakter, jedoch eine eigene Identität und ist durch den Pier mit den anderen verbunden. Diese kleine „Sehnsucht nach der Insel“ soll es dem Besucher ermöglichen, seinen Blick auf den urbanen Raum zu verändern. Es eröffnet eine vielfältige Möglichkeit von Reflexion, Beziehungen und Begegnung sowie Diskussionen, um neue Szenarien und Gewohnheiten des Zusammenlebens Gestalt zu verleihen.

NORMAL im neuen Jahr

Die ersten Ergebnisse und Projekte der Teams werden am 27. Jänner 2021 im Haus der Architektur in Form einer Podiumsdiskussion vorgestellt und dann bis zum 24. Februar 2021 dort ausgestellt. Zwischen März und Juli 2021 sollen diese realisiert werden und ab August werden die vier Bezirke in vier Stadtrandwanderungen miteinander verknüpft und dienen dann als Ausgangspunkt für eine neue Wanderroute um Graz. Doch damit soll das Projekt noch kein Ende finden: Michael Petrowitsch, Grazer Projektpartner von transparadiso, empfindet die Fokussierung der speziellen Verortung in Bezirken, an welchen sich der rasante Wandel eines Stadtbildes erkennen lässt, als Garant für die Beständigkeit der aus den Projekten gewonnenen Prozesse, welche weit über 2021 hinausragen.  

Weitere Infos unter www.transparadiso.com; www.orizzontale.org/en; www.publicworksgroup.net

www.kulturjahr2020.at/projekte/normal_direkter-urbanismus-x-vier

www.missingthings.org