Soziale Begegnung an realen Un-Orten

Soziales Tauwetter mit einer Prise Normalität verspricht der Wonnemonat mit einem dichten Kulturprogramm. Das Literaturhaus seziert Orte mit Worten, der Grazer Stoffwechsel ist Backstage zu erleben und die historische Liesl am Schloßberg wird in Plastik gehüllt.

Text: Natalie Resch

Wo und wann haben Sie zum letzten Mal jemanden kennengelernt? Seit 19. Mai scheint das soziale Leben, die Begegnung mit anderen – auch an sozialen „Schauplätzen“ – wieder Fahrt aufzunehmen. Bars und Restaurants, die zu Sehnsuchtsorten geworden sind, öffnen ihre Türen. Realen Erkundungen von gesellschaftlichen Umschlagplätzen – an den Orten selbst – widmet sich das Literaturhaus gemeinsam mit der Wandzeitung der ausreißer ab 20. Mai. In wORTwechsel nehmen Autorinnen touristische Unorte literarisch unter die Lupe, gehen mit Menschen vor Ort ins Gespräch und sezieren ihre Themen mit dem Werkzeug der Sprache. Es sind vielfach stigmatisierte Orte, wie das AMS, die Justizanstalt Karlau und ein Waschsalon, wo Literaten schon zu Gast waren. Im Mai laden die Poetry Slammer Christine Teichmann, Klaus Lederwasch und Precious Nnebedum zum literarischen Spaziergang durch die Triestersiedlung ein. Precious Nnebedum wurde kürzlich neben dem Literatur-Exilpreis mit dem Frauenpreis der Stadt Graz für ihre Initiative Tanaka – Girls Day ausgezeichnet. „Neu ankommende Migrantinnen möchten wir supporten, Barrieren und Vorurteile Fremden gegenüber abbauen“, so die erst 22-jährige Nigerianerin. Die Geschichten, auf welche die drei Wortakrobaten in der Begegnung mit den Bewohnern der Triestersiedlung gestoßen sind, erzählen sie entlang ihrer Tour durch die Tändelwiese, das Taggerwerk, vorbei am Ressidorf bis zur Kunststätte im Verborgenen, dem kunstGarten.

Mit verblüffend einfachen ­Mitteln macht das Projekt DMP – Decision Making Process im öffentlichen Raum Entscheidungsfragen sichtbar, die unser soziales Leben bestimmen. Der Wiener Theaterverein meyerhold unltd. wird in Kooperation mit Studierenden der Kunstuniversität Graz und der Technischen Universität das Projekt im öffentlichen Raum in Graz realisieren. Mit einem Absperrbandsystem und Schildern wird an Verzweigungspunkten eine Entscheidungssituation initiiert, die das Publikum zwingt, links oder rechts vom Absperrband entlang weiterzugehen. Die Entscheidungssituationen orientieren sich an allgemein verständlichen Sozialparametern weltanschaulicher, religiöser, ästhetischer oder moralischer Art und sie enthalten auch Entscheidungsfragen, die im öffentlichen Leben aktuell sind. Die Absicht des „Decision Making Process“ ist es, durch Zersplitterung die Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten des bzw. der Einzelnen zu verteilen und exklusive Perspektiven zu ermöglichen.

Durchsichtige Labyrinthe für mehr Klarsicht

Ums Erkunden und Begreifen in der Bewegung geht es in den begehbaren Labyrinthen aus PET-Flaschen als Teil des Kunstjahrprojekts strange views. Eine vielschichtige Sensibilisierung im Umgang mit Plastik(-abfall) nimmt sich das internationale Gemeinschaftsprojekt der Kunstvereine arTTension, der Berufsvereinigung Bildender KünstlerInnen und der serbischen Institution SULUV (Association of Artists of Vojvodina) vor. Diese Achse zwischen Graz und Novi Sad hat sich in den letzten Jahren über Künstleraustauschprogramme und Ausstellungen gefestigt. LET’S PET! Graz embottled nennt sich die Gruppenausstellung am Schloßberg, die mit PET-Skulpturen folgender Frage nachgeht: Liegt die Zukunft im Müll? Es ist (höchste) Zeit, umzudenken und den weltweiten Kreislauf zu verstehen – bringt der Ort der Intervention diesen Appell auf den Punkt: Sie befindet sich im Glockenturm der historischen Liesl, der zwei Wochen lang in eine Scheinwelt aus Plastik gehüllt wird. Am Schloßberg findet sich des Weiteren eine interaktive Installation. Ein künstlerischer Mülltransfer der PET-Skulpturen in das serbische Kulturzentrum Svilara ist für den 16. Juni geplant.

Wege der Infrastruktur zur Ver- und Entsorgung der Stadt untersucht TRACING SPACES. Michael Hieslmair und Michael Zinganel zeigen mit den Mitteln der Kunst und Wissenschaft den analogen Stoffwechsel der Stadt, folgen Mobilitätsströmen an Gütern und Personen. Mit einem Autobus und einer Pop-up-Ausstellung werden die Besucher in einer Art mobilem, multilokalem Symposium mit Musikbegleitung und kulinarischer Notversorgung zu verschiedenen Infrastrukturknoten geführt, die für die Bewältigung des „Stoffwechsels“ von großer Bedeutung waren und sind. Diese Agglomerationen stehen für die Arbeits- und Lebensräume von Experten der Ver- und Entsorgung, die das alltägliche Wohlbefinden in der Stadt ermöglichen. Wir erleben Graz backstage sozusagen.     

Reihe wORTwechsel – Literaturhaus Graz & ausreißer – Die Grazer Wandzeitung: wORTwechsel
Literarischer Stadtspaziergang: „stadt.teilen“: 20. Mai, 17.30, Treffpunkt: Stadtteilzentrum Triester

literaturhaus-graz.at

Ausstellung und Intervention „LET’S PET. Graz embottled“
20. bis 31. Mai, Schloßberg
arttension.at

Aufführung „DMP – Decision Making Process“

17.–20.5., 27.–30.5.2021, Europaplatz

2 × täglich (11 & 15 Uhr)

„TRACING SPACES“ ­­­– Performative Forschungsreisen in die Grazer
Logistiklandschaft
Geführte Touren: freitags am 28.5., 11.6., 2.7. und 16.7.2021;Treffpunkt und Abfahrt: jeweils vor dem Haus der Architektur Mariahilferstraße 2,
8020 Graz

tracingspaces.net/grazbackstage

Weitere Kulturjahrprojekte

Die Schule des Wir
bis 30. August, < rotor > Zentrum für zeitgenössische Kunst, Marienplatz, Lendplatz, Orpheum, Metahofspitze, Platz der Begegnung
rotor.mur.at

Ausstellung „Re_stArt_#Graz2020“Ausstellung
bis 20. Juni, Graz Museum
grazmuseum.at

Interaktive Festivalausstellung „Die Stadt als Datenfeld“
bis 29. August, Graz Museum
grazmuseum.at

Homeostasis – between Borders and Flows, Daniela Brasil und Nayarí Castillo
bis 25. Mai 2021, A2 Süd Autobahn/Graz Raaba
dailyrhythmscollective.com

Klima-Kultur-Pavillon des Breathe Earth Collective
bis 15. August, Freiheitsplatz
Breatheearth.net

Performance „Kultur inklusiv“ der ­Akademie Graz
28. Mai, 15 Uhr, John-Ogilvie-Haus
akademie-graz.at

Übersicht aller laufenden Programme: kulturjahr2020.at/termine