Was ist schon normal und wann fängt die Utopie an? Ist die Zukunft längst da und wenn ja, an welchen Orten in Graz? Fragen des Hybriden und des Wandels widmen sich der Demonstrativbau Club Hybrid in der Herrgottwiesgasse, orizzontale am Grünanger und die Peace Babies am Schloßberg.
Text: Natalie Resch
Nachhaltige Kunst bedeutet weit mehr, als den Import von internationalen Künstlern und ihren Werken zu reduzieren. Sie setzt stattdessen auf lokales Know-how, Partizipation und das Ausloten von Vorhandenem im Wandel. Ein Beispiel wie temporäre Architektur aus dem Hybriden etwas Beständiges begründen kann, liefert der Club Hybrid: Heidi Pretthofers und Michael Riepers Demonstrativbau, der mit wechselnden Residencies und Programmen zwei Monate lang als Werkstatt, Bühne und, wie sie es nennen, „urbane Nebelzone“ fungiert. Der Club Hybrid ist täglich geöffnet und hat eine eigene Kantine, in der Consommé Cabarett von 10 bis 22 Uhr, so heißt es, vorzüglich kocht. Die Struktur wird nicht – wie so oft – rückgebaut oder entsorgt, sondern ist als Rohbau angelegt, der zu einem permanenten Stadtobjekt weiterentwickelt wird. „Der Club Hybrid arbeitet an einer urbanen Verträglichkeitskultur. Das Antizipieren künftiger Nutzungen, in einer Balance von Offenheit und Verbindlichkeit ist Teil des Konzepts und wird mit Interessierten seit Projektstart in realen und virtuellen Treffen debattiert und entwickelt. Ziel ist der Aufbau einer Trägergruppe, sei es ein Verein oder eine Genossenschaft, die eine nutzungsoffene Bespielung der Herrgottwiesgasse 161 im Sinne der produktiven Stadt fortsetzen“, so die beiden Initiatoren. Eine Vielzahl an wissenschaftlichen, künstlerischen und aktivistischen Formaten proben Arbeits- und Lebenspraktiken bzw. diskutieren Aspekte der urbanen Teilhabe, Stadtentwicklung und Hybridität – angesiedelt im südlichen Graz, dort, wo sich Gewerbe, Industrie und Einfamilienhäuser treffen.
Einem Menüplan gleich, oszilliert das Wochenprogramm mit Fokus auf jeweils zwei Themen zwischen Neuem und Bestandsaufnahme. Ab 28. Juni widmet es sich der Welt und dem Modell. Ein Modell als gedankliches Konstrukt natürlicher oder gesellschaftlicher Phänomene – darüber diskutieren u. a. Markus Bogensberger, Oliver Elser, Kurator am Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, und die Leiterin der Abteilung für Kunstgeschichte am UMJ. Am 4. Juli folgt ein Filmscreening mit Gabu Heindl und Drehli Robnik zu Architectural Models im Film zwischen 1919 und 2019. Mit It’s already there! ist die Residency der Triestersiedlungsexperten Martin Behr und Martin Osterider betitelt. Seit 2013 erscheint ihre Reihe Triester in der Edition Camera Austria mit spezifischen Bild-Geschichten über jene Siedlung, in der sie aufgewachsen sind und durch die sie fotografische Streifzüge unternehmen. Für den Club Hybrid erweitern sie ihre visuelle Langzeiterzählung um den Bereich des Demonstrativbaus und laden zum Fotoworkshop.
Der Klang der Triestersiedlung
Was hat Musik mit der eigenen Biografie zu tun und was ist „echte“ Musik jenseits von Kulturen? Ausgehend von diesen Fragen lässt sich Marino Formenti auf die Suche nach musikalischen und kulturellen Gemeinsamkeiten auf ein Experiment ein. Der klassische Komponist verbringt den Juni in der Triestersiedlung bei einer Familie mit Migrationshintergrund. Dabei taucht er nicht nur in das soziale Gefüge der Familie und des Wohnblocks ein, sondern wird auch mit den anderen Bewohnern gemeinsam Musik machen. Das Ganze gipfelt in einem Fest im Hof der Siedlung am 3. Juli.
Schwimmender Stadtstrand
Auf die hitzigen Diskussionen und Proteste gegen das Murkraftwerk und die daraus resultierende Veränderung des Naturraums am Grünanger reagierten orizzontale. Im Juni 2021 wurde gemeinsam mit dem Jugendzentrum Grünanger die Installation FLUSSFLUSS – Castaway on the Mur erbaut. Die Bewohner wurden vom italienischen Architekten-Kollektiv aufgefordert, gemeinsam zu träumen; entstanden ist ein schwimmendes System von Plattformen. Die Installation erforscht Makro-Utopien und spekulative Fiktionen und installiert dafür das Landmark FLUSSFLUSS, eine Boje mit eben dieser Aufschrift, sowie eine überdachte Plattform. Diese soll sich die Bevölkerung als permanenter öffentlicher Ort zur Alltagsnutzung und für weitere Veranstaltungen aneignen und sich am neuen „Stadtstrand“ verankern, in der Seichtwasserzone Grünanger.
Utopien im Jetzt
Weniger Wünschen als Zielen widmen sich die Peace Babies mit Utopia Square. Dabei handelt es sich um 17 spartenübergreifende Pop-up-Performances im öffentlichen Raum über alle Grazer Bezirke verteilt. Sie wenden ihren Blick auf die 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung der Vereinten Nationen und das, was von diesen Zielen vor Ort bereits gelebt wird. „Wir stürmen Graz auf der Suche nach den Kleinen, die Großes schaffen. Wir nehmen Plätze ein und erobern die Stadt für die, denen sie längst schon gehört“, lautet das Credo des Grazer Kollektivs, das temporär Plätze besetzt, um nach der Motivation einzelner Akteure vor Ort zu fragen. Dabei spannen die Peace Babies vom Uhrturm aus ein assoziatives Netz über Graz, um das Vorhandene sichtbar zu machen. Eine Installation vereint die Performances und deren zugrundeliegende Utopien. Für das Publikum sind die einzelnen Performances wie Puzzlestücke, die sich nach und nach zu einem großen Bild zusammenfügen, sichtbar am Ende eines audiovisuellen Spaziergangs mit Blick vom Schloßberg auf alle Grazer Bezirke.
Club Hybrid
Residencies und tägliches Programm: bis 15. August 2021
Herrgottwiesgasse 161, 8055 Graz
clubhybrid.at
FLUSSFLUSS – Castaway on the Mur
Installation
bis 30. August
Seichtwasserzone Grünanger
transparadiso.com
Utopia Square
Performances bis 29. Juni
Eröffnung der Installation und audiovisueller Spaziergang über den Schloßberg: 30. Juni, 12 Uhr
utopiasquare.at
Triesterstraße 66
Abschlussfest mit/von Marino Formenti: 3. Juli
im Hof der Triesterstraße 66
marinoformenti.net
Übersicht aller laufenden Programme: kulturjahr2020.at/termine