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Die Kunst geht auf die Straße

Marinella Senatore, Assembly (2021), Installation am Bahnhof Foto: Marinella Senatore

Der steirische herbst dringt heuer unter dem Motto „The Way Out” vor allem rund um die Eröffnung tiefer denn je in den Alltag der Grazer ein. Ziel ist es, die Kunst aus ihrem Korsett zu befreien und für alle zu öffnen.

Text: Lydia Bißmann

Nach Lockdown und der viel ins Netz verlagerten Ausgabe vom Vorjahr will man den Menschen wieder in echt an so vielen Orten wie möglich in Fleisch und Blut begegnen. In den Genuss kommen sollen dabei möglichst viele und vor allen Dingen nicht nur jene, die sich sowieso für Kunst interessieren. Der steirische herbst ’21 wird die Menschen mit Überraschungspostern, Spontanaktionen, Park Happenings und Kunstwerken per Postwurf durchaus auch ungeplant auf- und heimsuchen. Mit einem niederschwelligen Zugang möchte man die Kunst aus ihrem Elfenbeinturm holen und sie wieder dorthin zurückbringen, woher sie eigentlich kommt. In den Alltag. „Die Kunst geht Risiken ein, die nur im echten Leben existieren, wo nichts garantiert ist. Gerade jetzt wird es Zeit, uns selbst daran zu erinnern, dass es gerade dieser Mangel an Garantien ist, der das Leben ausmacht”, so Intendantin Ekaterina Degot.

Alphabet Cubes, Detail, 2014
Foto: Dejan Kaludjerovic

Eröffnungs-Highlights – Ein Tor zur Kunst

Niederschwellig bedeutet auch, dass die Kunst vielleicht schmerzhaft oder verstörend sein kann, aber dass niemals auf Spaß und Freude vergessen werden darf. Vor allem rund um die Eröffnung und gegen Ende des Festivalmonats kann es daher – ganz im Sinne der Festival-Tradition – durchaus turbulent, krawallig und spektakulär zugehen. Intendantin Ekaterina Degot wird die Eröffnungsrede, umrahmt von neonfarbenen Slogans und tausenden grellen Glühbirnen, am Bahnhof halten. Intensiver als Weihnachtsbeleuchtung ist die Arbeit der italienischen Künstlerin Marinella Senatore, die dafür Zitate und Sprüche auf Demos, Streiks und Versammlungen aller Art zusammengetragen hat. Die Arbeit wird das ganze Festival über am Europaplatz zu sehen sein und soll eine Art Tor für die Festival Themen darstellen. Ein Teaser macht Lust auf die Opern-Performance von Dejan Kaludjerović, der seit Jahren Interviews mit Kindern führt, in denen er sie zu Begriffen wie Gott, Islam, Quarantäne oder Heimat befragt. Daraus ist seine allererste Opernarbeit Conversations: I don’t know that word … yet entstanden. Im Volksgarten warten dann zweifelhafte Mitglieder der Grazer Ordnungswache, die eine sehr eigene Auffassung von ihren Aufgaben haben. Mit speziellen Uniformen und manchmal auch beritten verbreiten sie an mehreren Tagen kreatives Chaos und produktive Unordnung und stellen repressive Strukturen in Frage. Am Ende des Eröffnungstages steht ein Tanzstück am Hauptplatz. Uriel Barthélémi mit Sophie Bernado und Salomon Baneck-Asaro performen dabei auf den stilisierten Trümmern einer Welt, die durch Modernisierungswahn und koloniale Ausbeutung aus den Fugen geraten ist.

Navigating the Ruins of the Old World (2021), Performance
Foto: Guillaume Schmitt/Le Manege de Reims

Video-Kommentare und Volksskulptur

Selfies und Fotos sind verboten bei der Performance Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang von Tino Sehgal. Rund um den Eröffnungstag werden Augartenbucht und Stadtpark besetzt. 40 Akteure werden sich dabei unter die Parkbesucher mischen und sich erst über ihre Performance erkennbar machen. Am Esperantoplatz lässt Thomas Hirschhorn eine Spontane Volksskulptur entstehen. Mit Hilfe von Anrainern soll hier ein selbstgemachtes Mahnmal mit Kerzen, Blumen, Bildern und anderen Artefakten für die französische Widerstandskämpferin, Mystikerin und Philosophin Simone Weil entstehen. Vorbild sind die Gedenkorte, die nach dem Tod von Lady Diana zum Beispiel in Paris auftauchten. Ebenfalls mit ganz normalen Menschen aus der Region arbeitet der Regisseur Felix Hafner. Er veranstaltet Workshops, bei denen er versucht, Brücken zwischen den unterschiedlichen Protestkulturen der Jungen und Älteren zu schlagen. Wo können sich Fridays-for-Future-Kids und Corona-Regel-Gegner treffen und so miteinander Neues schaffen, lautet hier die Kernfrage des Projekts, das der steirische herbst zusammen mit der Steirischen Kulturinitiative produziert.

Felix Hafner, es warat wegen morgen (2021), Performance in Deutschlandsberg, Maria Lankowitz und Weiz Foto: Helene Thümmel

Auch aktuelle Geschehnisse werden im steirischen herbst be- und verarbeitet. In den Lageberichten, einem Video-Format, kommentieren unter anderem Stefanie Sargnagel, Pia Hierzegger oder Heimo Halbrainer Aufsteirern, die Graz-Wahl oder den Umgang mit der dunklen Vergangenheit der Stadt. Bares für Wahres vom Thea­ter im Bahnhof wird als Finale einen Hallenflohmarkt mit einer Geschichten-Gala bieten. Bei einem Flohmarkt in der Helmut-List-Halle werden gebrauchte und antike Fundstücke und deren Storys gesammelt und anschließend in einer an das TV-Format „Bares Für Rares” angelehnten Reality Show präsentiert.

Theater im Bahnhof, Bares für Wahres (2021), Hallenflohmarkt mit Geschichten
Foto: Stefan Beer

Auch heuer finden die Festivals STUBENrein, musikprotokoll und Out of Joint im steirischen herbst statt. Mit September öffnet auch das Kultum seine Tore zur Corona-Ausstellung Einatmen – Ausatmen wieder, die extra für das Festival adaptiert wurde. Neben Werken von Marina Abramovic/ Ulnay, Maria Lassnig, Kiki Kogelnik, Nina Schuiki und Markus Wilfling wird hier auch eine neu gestaltete Blumenwiese von Anita Fuchs im Innenhof zu sehen sein. Die Uraufführungen im Orpheum sind auch per Stream für alle verfügbar. Eine ehemalige DM-Filiale in der Murgasse wird dieses Jahr als Festivalzentrum fungieren. Hier gibt es die Posterausstellung My Way Out zu sehen, die, wie alle anderen Arbeiten, speziell für diese Ausgabe des Festivals in Auftrag gegeben wurde. Die zehn Entwürfe von Hans Haacke, Horst Gerhard Haberl, Dana Sherwood u.a. nehmen Bezug auf das Festival-Motto und werden auch im gesamten Stadtraum plakatiert werden. Neu ist diese Jahr die 1+1-Aktion, bei der bei jedem „analogen“ Ticketkauf die zweite Karte gratis ist.  

Thomas Hirschhorn, Simone Weil Memorial (2021), Installation
Foto: Thomas Hirschhorn

steirischer herbst ’21: 9.9.–10.10.21

Besucher- und Pressezentrum, Murgasse 6, 8010 Graz, 2.9.–10.10., täglich 10–18 Uhr, Tel: 0316 81 60 70

www.steirischerherbst.at