Die manuskripte haben Sarah Kuratle als Literatin entdeckt. Nun hat sie gleich mit ihrem ersten Roman „Greta und Jannis. Vor acht oder in einhundert Jahren“ virtuose Literatur abgeliefert.
Text: Sigrun Karre
Wer sich auf der Suche nach so etwas wie Erhabenheit und Schönheit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur befindet, wird bei der Lektüre von Sarah Kuratles Debütroman Greta und Jannis fündig werden. Dieser eigentümliche Text schafft es, ganz dem inneren „Sinnesorgan“ der Empfindsamkeit zu vertrauen, ohne dabei je in Pathos oder Kitsch abzugleiten. Dabei braucht es schon einige Seiten, bis man sich in der lyrisch-mystischen Sprachwelt der 32-jährigen Autorin ganz akklimatisiert hat, in der die Grenzen verschwimmen: jene zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Realität und Märchen, zwischen direkter Rede und Erzähler, zwischen Mensch und ihn umgebender Natur.
Das Netz, das hier mit zarter Bildsprache gesponnen wird, verdichtet sich im Laufe der Geschichte zunehmend, bleibt aber maximal durchlässig für Vieldeutigkeit und Assoziationen, das macht den Zauber des Kuratle-„Sounds“ aus. „Ich habe eine ungefähre Idee in Bezug auf Figuren und Bilder, aber Klang und Melodie entwickeln im Schreiben dann auch eine Eigendynamik“, beschreibt sie den Schreibprozess, bei dem auch das wiederholte Vortragen eine wichtige Rolle spielt. Die Suche nach der richtigen Form des Erzählens beschäftigt sie seit ihrer Jugend: „Ich habe mich bewusst darauf eingelassen, meinen eigenen Ton zu entwickeln, obwohl ich wusste, was da entsteht, ist vielleicht nicht unbedingt ein großer Trend.“ Auch die Natur hat sie bereits früh als Spiegel für sich und ihr Schreiben entdeckt: „In meiner frühen Kindheit in Bad Ischl hat das bei mir begonnen, dieser Bezug zur Natur, ich habe mich dem Wald und dem See schon sehr nahe gefühlt, gewisse Plätze sind wie alte Bekannte.“
Das Spannungsverhältnis zwischen Natur einerseits als sinnlich erlebbarer Raum voller Farbe, Duft und Klang, andererseits als Objekt der beobachtenden Wissenschaft ist ein wiederkehrendes Motiv in der Geschichte, die im „allerletzten Dorf im Gebirge“ spielt. In diesem fiktionalen Dorf gelten seltsame, starre Regeln, nur Erstgeborene dürfen Kinder bekommen. „Mich hat interessiert, wie es möglich ist, dass eine soziale Ordnung, die nur wenigen nutzt und den meisten Menschen schadet, sich dennoch verfestigen kann und was das mit dieser Dorfgemeinschaft macht“, so Kuratle über die Rolle der Erstgeborenen, „auch stellvertretend für die anderen glücklich zu sein“.
Im Mittelpunkt der Liebesgeschichte stehen jedoch, „die anderen“, die Ungesehenen. Die Liebe zwischen Greta und Jannis nimmt ihren Ausgang in der Kindheit – „es war alles so natürlich und alles griff wie naturgewollt ineinander“ (S. 100) – und muss doch aufgrund sozialer Normen ein Geheimnis bleiben, denn „… dort steht er schon, Jannis. Dazwischen eine Grenze, ein Gesetz von Familien, ein Zaun ohne Latten“ (S. 154), heißt es im Text.
Jannis und Greta verliefen sich im Wald …
Kuratles Roman ist an das Grimm-Märchen Hänsel und Gretel angelehnt, was in verschiedenen Motiven immer wieder aufscheint. Mit Märchen und mit dem Erzählen ist die Autorin aufgewachsen: „Meine Großmutter war eine fabelhafte Erzählerin, die mir sicher sehr viel mitgegeben hat. Irgendwann habe ich in der Schulzeit begonnen, mir Notizbücher zu kaufen und reinzuschreiben, „reinzuerzählen“, es hat mich fasziniert wie schöpferisch Sprache sein kann.“ Intensive Lesephasen sind Teil ihres Schreibens. „Ohne lesen könnte ich nicht schreiben“, ist sie sich sicher, ebenso wie darüber, dass sie unter zu großem finanziellem und zeitlichem Druck nicht kreativ sein könnte. Auch ist sie froh, neben der Literatur einen geregelten und interessanten Beruf auszuüben, wo sie unter Menschen ist. Denn obwohl ihr „Schreibdrang“ auch aus dem Wunsch heraus entsteht, „zu dem großen Ganzen an Geschriebenem, das es schon gibt“ ihr Eigenes hinzuzufügen, zu verknüpfen und so in Verbindung zu gehen, meint sie: „Am besten schreibt es sich doch, wenn ich für mich bin.“
„Den glitzernden Faden suchen, so nannte er es, als Greta ihn fragte, was machen wir da eigentlich, Jannis, als sie stundenlang durch Wiesen, unter Büsche und Bäume krochen.“ (S. 60) Dieser „glitzernde Faden“ zieht sich musikalisch durch den gesamten Text und ist das, was bleibt, nach der Lektüre dieses zweifellos großen Liebesromans: etwas Archaisches und zugleich Transzendentes, eine Wahrheit, die sich nicht fassen, aber umso besser fühlen lässt.
Sarah Kuratle: Greta und Jannis.
Vor acht oder in 100 Jahren
Otto Müller Verlag 2021
Lesung: 22.3., 19 Uhr
Landesbibliothek, Kalchberggasse 2, Joanneumsviertel, 8010 Graz
Anmeldung ist erforderlich: www.landesbibliothek.steiermark.at
Sarah Kuratle
Studium der Germanistik und Philosophie an der Universität Graz. Ihre Liebesgeschichte „Iris“ erschien in Fortsetzungen in den manuskripten. Ihre Gedichte wurden ebendort sowie im wespennest veröffentlicht.
2022: Shortlist Literaturpreis „Text & Sprache“
2020: Aufenthaltsstipendium in der Fundaziun Nairs, Engadin
2019: Finalistin beim open mike
2019: rotahorn-Literaturpreis
2019: Adalbert-Stifter-Stipendium des Landes Oberösterreich
2017: Startstipendium für Literatur des österreichischen Bundes
2016: Startstipendium für Literatur des österreichischen Bundes
2016: manuskripte-Förderpreis der Stadt Graz
www.sarah-kuratle.com
Textauszug S. 154 f.
Eng kommt es Greta vor, beengend, als Jannis mit seiner Frau zwischen die Leute tritt, Hände schüttelt, Wangen küsst. Als er vor ihr steht, möchte sie den obersten Knopf seines Hemds lösen, den Kragenknopf. Als wäre ein Knopf schuld an allem. Als könnte Jannis nichts sagen, so zugeknöpft, ohne Luft, wie könnte er laufen. Sein mit Käfern bunt bedrucktes Hemd fühlt sich wie ein Panzer an. Hart an ihrer Brust ist seine Brust, als Greta Jannis umarmt. Von allen Glückwünschen trägt sein Hemd keine Falte davon. Wenn er sich von einem zur anderen dreht, anstoßt und nickt, rückt keine Locke von der Stelle, sonst so wild im Wind. Greta steht grau und zerknittert da, in Mutters Kleid, mit Vogelnest am Kopf fällt sie nach ihrer Fahrt durch den Wind erst recht auf in dieser bunten, steifen Schar an Menschen. Was sagte Jannis früher, was er mache, wenn es ihm zu viel, zu viele Leute, dann stelle ich mir vor, ich bin ein Baum, mit Wurzeln weit übers Fleckchen Erde hinaus, dann spüre ich, was es braucht. Licht, Wind und Regen voller Nährstoffe. Dann halte er inne, warte, so lang, wie es halt geht. Und dann, was machst du dann, du bist ja kein Baum, fragte Greta nach, sie waren auf dem Schulweg. Dann laufe ich weg, bis in den Wald, wo die Bäume, viele Blätter Luft zufächern, tröpfeln und in der Sonne blinzeln. Was sagte Jannis, versucht sie sich zu erinnern, was er mache, wenn Greta ihm nachläuft, das darfst du immer, sagte er, die anderen hängen wir ab.