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Der Augenblick der Kinder

Folke Tegetthoff Foto: Heimo Runggaldier

Folke Tegetthoff über sein neues Buch, Kinder als Lehrmeister und Graz Erzählt 2023.

Text: Stefan Zavernik

Mit „Der Augenblick der Kinder“ erscheint Ihr erstes Buch, das speziell von Kindern handelt. Wie kam es zur Idee zum Buch?

Ich besuchte im Sommer 2021 einige Fotoausstellungen, die allesamt „Bilder aus dem Leben gegriffen“ zeigten – darunter waren auch immer wieder Fotos von Kindern und Jugendlichen, die mich, das bemerkte ich bald, wie magisch anzogen. Ich stand also vor ihnen und es war mir jedes Mal, als die Augen der Kinder mich so direkt anblickten, so, als würden sie mich in „ihre Geschichte“ hineinziehen, als würden sie sagen: „Schenke du uns den Respekt, die Achtung, die Aufmerksamkeit, die wir nicht bekommen!“ Die Idee wurde geboren, Fotos als Quelle zur Inspiration für Geschichten zu nehmen. Um damit Kindern aus aller Welt, ihrem Leben, ihrem Denken und Handeln, ihrem kulturellen und religiösen Background eine Stimme zu verleihen. Ihr Leid, ihre Hoffnung, ihre Sehnsüchte, ihre Ängste wahrzunehmen und einen weiteren Augenblick ihres Lebens – das Foto war ein anderer – für immer festzuhalten. Es wurde ein absolut faszinierendes Projekt. Zwei der 25 Geschichten haben einen ganz realen Hintergrund: Die eine basiert auf einer wahren, fantastischen Geschichte, die unsere Tochter als Neonatologin im Zuge  ihrer Arbeit in Malawi erlebte,  und die andere ist die Geschichte unseres indischen Sohnes Kunchok, der eines jener Kinder war, der als 6-Jähriger aus Tibet über den Himalaya nach Indien flüchtete. Alle anderen sind „erfunden“ – erfunden deshalb mit Anführungszeichen, weil ich im Laufe des Schreibprozesses entdeckte, dass auch sie allesamt auf Erlebnisse, Eindrücke zurückzuführen waren, die ich irgendwann, irgendwo auf meinen Reisen aufgenommen hatte und die Jahre und Jahrzehnte irgendwo in meinem Inneren verborgen waren und mit dem Blick eines Kindes nun wieder aufpoppten.

Warum haben Sie dieses, Ihr 45. Buch nicht bei Ihrem Stammverlag (Langenmüller, Deutschland) verlegt, sondern dafür wieder ihre eigene Verlagsgesellschaft mit Sitz in St. Georgen wachgeküsst?

Ich habe FÜR Kinder (und Jugendliche) geschrieben, ich habe in den letzten 44 Jahren für und vor 100.000en von Kindern erzählt, aber ich hatte komischerweise noch nie konzentriert ÜBER Kinder geschrieben. Als ich das Manuskript und dessen Gesamtidee und Konzept nicht nur meinem Verlag, sondern auch anderen großen Verlagen in ganz Europa anbot, wurde ich immer wütender über deren Reaktion: „Kinder und Fotos?“, „Nicht einzuordnen“, „Ist das ein Bildband oder ein literarischer Textband?“, „Wer soll dafür die Zielgruppe sein?“ Mein Verlag erklärte sich schließlich bereit, das Buch zu machen, aber nur als „normales Buch“. Dann war Schluss mit lustig! Wenn ich 20 Monate intensiv daran arbeite, Kindern Achtung und Respekt zu schenken, dann musste der Rahmen auch entsprechend wertvoll sein! Also habe ich gemeinsam mit meinem Team beschlossen, ein auch äußerlich besonderes, außergewöhnliches, wertvolles Buch für Erwachsene in höchster Qualität zu machen.

Kinder sind für Sie in Ihrem Leben immer auch Lehrmeister gewesen. Was können wir von Kindern lernen?

Wir müssen uns vor Augen halten, dass wir, im Augenblick der Geburt, als „der perfekte Mensch“ auf die Welt kommen – nichts als das lebendig gewordene Sein! Solange der Mensch ein Kind ist, handelt und hinterfragt es nicht sein Tun, ob es nützlich oder schädlich für ihn sei. Es lebt völlig im Hier und Jetzt, im wahrsten Sinn des Wortes IM AUGENBLICK. Ist der Mensch dann zu einem Erwachsenen geworden, steht im Zentrum all seines Tuns das Abwägen, das Einordnen, der eigene Vorteil. So, und nur so, meint er, überleben zu können. Wenn man mich fragt, wie alt ich sei, oder wie alt ich mich fühle, antworte ich: Wie gerade acht geworden. Aber ich arbeite intensiv daran, fünf zu werden …

Foto: Heimo Runggaldier

Sie gelten als einer der wichtigsten Erzähler im deutschsprachigen Raum und haben das Genre des „neuen Märchens“ über Jahrzehnte mitgeprägt. Was macht für Sie eine gute Geschichte aus?

Sie muss idealerweise eine Verbindung unserer vermeintlichen Wirklichkeit und deren anderen Dimensionen herstellen. Denn wir sind völlig darauf fixiert, dass das, was unsere Sinne uns liefern, auch die einzig gültige „Wirklichkeit“ und Wahrheit sei. Das ist ein großer Trugschluss: Wir sind umgeben von einer Vielzahl von „Wirklichkeiten“ und das ist kein esoterisches Gequassel, sondern Fakt. Tiere zum Beispiel besitzen Fähigkeiten, von denen wir keine Ahnung haben und die wir auch nicht wahrnehmen können: die Geruchslandkarte eines Hundes, ultra­violettes Licht, mit dem sich eine Vogelart orientiert. Hochfrequente Töne, die nur von einer bestimmten Gattung von Säugetieren empfangen werden können. Diese Wirklichkeiten, die uns völlig verborgen bleiben, sind jedoch real, existieren. Und genauso ist es auch mit den „Wirklichkeiten“, die unsere Fantasie, die stärkste Kraft, die unser Geist hervorzubringen imstande ist, entstehen lassen kann. Und das Märchen hat wie kein anderes literarisches Genre die Fähigkeit und die Möglichkeit, diese anderen „Wirklichkeiten“ zu materialisieren.

Ihr Lebensmittelpunkt liegt In St. Georgen. Was halten Sie von der These, dass Kunstschaffende, um erfolgreich zu werden, raus in die große weite Welt müssen?

Dazu eine kleine Anekdote aus meinem eigenen Leben: Als ich 1984 von meiner Welttournee zurückkam, wurde ich vom damaligen Medienzaren Josef von Ferenczy aus München unter Vertrag genommen. Als ich das erste Mal in sein Büro kam, warteten dort seine anderen Schützlinge: Udo Jürgens und Günther Grass – er hatte wirklich ALLE unter Vertrag. Und mich, kleines, unbedeutendes Würstchen mit meinen 30 Jahren … Das Erste, was er sagte, war: „Lieber Herr Tegetthoff, ich mache aus Ihnen einen wirklichen Star, aber dazu müssen sie von Graz nach München oder zumindest nach Wien ziehen!“ Als ich von diesem Gespräch nach Graz zurückkehrte, zogen wir 3 Wochen später nach Schwarzau im Schwarzautal mit 150 Einwohnern … Ich wurde kein Star, aber wir konnten unseren 4 Kindern eine paradiesische Kindheit bieten. Wenn ich sie heute betrachte, die allesamt großartige Menschen geworden sind (und auch erfolgreiche …), war und ist dies das Allerwichtigste, was ich in meinem Leben erreicht habe.

Das von Ihnen gegründete Festival „Graz Erzählt“ wird mittlerweile von Ihrer Tochter Tessa geleitet. Auch in diesem Jahr wird es neben Graz in unterschiedlichen Regionen in der Steiermark Station machen. Was findet das Festival im ländlichen Raum, das es in Graz so nicht gibt?

Wir wollen nichts anderes finden, sondern anderes dorthin bringen! Deshalb sind wir in Vorau, Bad Radkersburg und, neu, in Bruck an der Mur. Weil ich es ganz wichtig fand – und Tessa setzt diese Idee sogar noch verstärkt fort –, dass wir internationale Narrative, andere (Erzähl-)Kulturen auch im ländlichen Raum präsentieren wollen, wo es vielleicht nicht so an der Tagesordnung ist wie im urbanen Umfeld, mit Andersartigem, Fremdem in Kontakt zu treten.

Was darf sich das Publikum von Graz Erzählt 2023 erwarten?

Ein neues Konzept in jeder Hinsicht. Bei der „Übergabe“ waren sich Tessa und ich völlig einig, dass Graz Erzählt nicht nur vom künstlerischen Programm, sondern auch von seiner Optik ein anderes, neues Festival werden soll und muss. Jetzt ist Frauenpower angesagt – im wahrsten Sinn des Wortes „female stories“ und das finde ich sehr wichtig und einfach großartig! Und ich darf die Premiere meines „AUGENBLICKE LIVE“-Programms machen – im Literaturhaus!     

„Der Augenblick der Kinder“
Edition Neues Märchen VerlagsGmbH, 2023; Bestellungen, Infos, Lese-und Hörproben und Videos auf www.augenblickderkinder.com
Kostenfreier Versand und signiert! Auch in englischer Sprache erschienen: THE CHILDREN‘S MOMENT

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