The Phantom of the Operetta: Das transnationale Kollektiv La Fleur wird bei der Eröffnung des steirischen herbst 2024 auf Einladung des Festivals mit einer Performance die gesellschaftspolitische Bedeutung der späten Wiener Operette erkunden. Wir sprachen mit Regisseurin Monika Gintersdorfer.
Interview: Stefan Zavernik
Der steirische herbst ist bekannt für seine avantgardistischen und experimentellen Ansätze. Was bedeutet es für Sie, an diesem Festival teilzunehmen, und welche Erwartungen haben Sie an das Publikum in Graz?
Wir freuen uns sehr auf Graz und diese spezielle Einladung des Festivals. Erwartungen an das Publikum habe ich persönlich eigentlich nie, im Moment der Aufführung entscheidet sich, ob sich der Kontakt zum Publikum herstellt oder eben nicht. Die Operette ist ein Unterhaltungsgenre und wir mögen Entertainment. Wir wollen wirklich gutes, mitreißendes Entertainment machen und gleichzeitig einige Gedanken und Kontexte zu Kálmán vermitteln, die vielleicht noch nicht allen bekannt waren.
Die Operette wird oft als nostalgische Reminiszenz an die Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie betrachtet. Wie nähert sich La Fleur diesem Genre an und welche neuen Interpretationen und Einsichten möchten Sie dem Publikum vermitteln?
Der nostalgische Blick auf die Operette ist verkürzt. Gerade in Hinblick auf den Komponisten Emmerich Kálmán, der zeitlebens aktuelle musikalische und tänzerische Tendenzen in seine Operetten einbaute, stimmt das nicht. Kálmáns Interesse für die Vereinigten Staaten und für die von dort kommenden neuesten Stile machten ihn zu einem Künstler am Puls der Zeit. In unserem Stück stellen wir diese transatlantischen Bezüge in den Fokus.
Wie haben Sie die Musik von Emmerich Kálmán für Ihre Inszenierung adaptiert?
Wir spielen Kálmán-Titel mit einem kleinen Streicherorchester, zu dem wir manchmal perkussive Live-Instrumente oder elektronische Musikelemente hinzufügen. Manchmal spielen wir auch den Originaltitel und anschließend eine eigene Version. Aber wir komponieren auch neue, eigene Titel, in denen die Kontexte des Genres besungen werden. Die Operette der 1920er Jahre war sehr offen für neue Einflüsse und ständige Überarbeitungen, um Modetänze oder angesagte Stile einzufügen, wie z. B. Tango oder Jazz, die damals gerade in Mitteleuropa bekannt wurden. Kálmán hatte da kaum Hemmungen – solange die Überarbeitungen Erfolg versprachen.
Welche Parallelen sehen Sie zwischen den politischen Umbrüchen der Zeit um 1900 und den heutigen globalen Entwicklungen?
In unserem heutigen Kontext ist nicht nur die Zeit um 1900 interessant, sondern die Jahrzehnte von 1900 bis in die Nachkriegszeit der 1950er Jahre. Das Heute erinnert in seiner gesellschaftlichen Zerrissenheit, aber auch in der künstlerischen Produktivität an die 1920er Jahre, in denen sehr weit auseinanderklaffende politische und ästhetische Positionen nebeneinander existieren konnten. Bis sie dann vom Faschismus zugunsten einer vereinheitlichten, nationalen Kultur brutal beendet wurden. Ab diesem Moment wurde Abweichendes als entartet gebrandmarkt und verboten. Die Zeichen unserer Zeit weisen deutlich in eine ähnliche Richtung. Die Offenheit für multiple Einflüsse, Ästhetiken und Lebensweisen, an die wir uns in den letzten Jahrzehnten gewöhnt hatten, droht wieder zurückgedreht zu werden. Rechte Politiker*innen werden in demokratische Ämter gewählt, menschenfeindliche Gedanken sind Teil unserer diskursiven Öffentlichkeit geworden. Und wie in den 1920er Jahren werden diese Tendenzen durch wirtschaftliche Schwierigkeiten und das Desinteresse der Politik, diese Schwierigkeiten zu beheben, befeuert.
Die Operette war traditionell ein Unterhaltungsformat, das oft als eskapistisch betrachtet wurde. Inwiefern sehen Sie in Ihrer Arbeit eine Möglichkeit, dieses Genre zu dekonstruieren und seine dunkleren Untertöne hervorzuheben?
Dass der Operette Eskapismus vorgeworfen wird, ist ein Erbe der 1950er Jahre, als Politik, Kultur und alle anderen gesellschaftlichen Bereiche in Österreich und Deutschland in einer gigantischen Kraftanstrengung versuchten, die Schuld und die Verbrechen der vorangegangenen 20 Jahre zu vergessen. Die lebendige, lustige, glamouröse Operette der Zeit vor dem 2. Weltkrieg fiel diesen Verdrängungsbestrebungen zum Opfer. Das Phantom der Operette beschäftigt sich nicht mit der Operette der 1950er Jahre. Für uns ist die schillernde Operette der 1920er Jahre interessant.
La Fleur wurde 2016 gegründet und hat seitdem auf verschiedenen internationalen Bühnen performt. Wie hat sich Ihre künstlerische Vision seit der Gründung des Kollektivs entwickelt, und inwiefern spiegelt sich diese Entwicklung in Ihrer aktuellen Arbeit wider?
Diese Inszenierung ist eine konsequente Fortsetzung unserer Arbeit, die immer wieder Showbiz und Mechanismen des Freien Theaters sowie des Stadttheaters in Beziehung zueinander bringt. Wir entwickeln Methoden des internationalen Austauschs, Mehrsprachigkeit, setzen verschiedene Musik- und Tanzstile in Beziehung, das ist unsere Kernkompetenz. Kálmáns Operetten gefallen uns sehr – je öfter wir die Titel mit dem Orchester singen, desto mehr. Die Operette ist so etwas wie der europäische Großvater oder die Großmutter des Showbiz und in dieser Arbeit lernen wir sie besser kennen, das ist wirklich interessant.
La Fleur, The Phantom of the Operetta
19.9., 21 Uhr; 21.9., 19.30 Uhr
Helmut List Halle, Waagner-Biro-Straße 98a, 8020 Graz