Die Next-Liberty-Dramaturginnen Dagmar Stehring und Iris Harter haben den Roman „Vevi“ für die Bühne bearbeitet. Wir sprachen mit Iris Harter über ein fantastisches Stück Kinderliteratur.
Interview: Sigrun Karre
Wie sind Sie auf diesen Text aufmerksam geworden und was fasziniert Sie besonders an diesem fantastischen, surrealistischen Werk?
Vor ein paar Jahren gab es in Bregenz eine erste Dramatisierung von Vevi als Weihnachtmärchen, ausgehend davon haben wir den Roman bzw. das Werk dieser bemerkenswerten, jedoch fast vergessenen Grazer (!) Autorin für uns entdeckt. Uns hat am meisten diese schöne und kluge Verbindung von fantastischer Erzählung und „Entwicklungsroman für Kinder“ interessiert. Die Schwelle zum Erwachsenwerden mit allen Fragen zum „Ich“, der eigenen Identität wird hier auf ganz poetische und humorvolle Weise beschritten.
Erica Lillegg gilt heute als österreichische Astrid Lindgren. Die mit Paul Celan befreundete Surrealistin wurde in Österreich zeitlebens trotz hoher Originalität und Qualität ihrer Werke kaum wahrgenommen. Konnten Sie recherchieren, woran das lag?
Ganz präzise lässt sich das nicht nachvollziehen und auch die Fachliteratur stellt nur Vermutungen an. Vevi, 1955 bei einem deutschen Verlag erschienen, kam prompt auf die Ehrenliste des internationalen Hans-Christian-Andersen-Preises – Lillegg war allerdings als deutsche Autorin gelistet. Zudem lebte sie seit 1953 in Frankreich. Es liegt die Annahme nahe, dass das für die Rezeption in Österreich eine Rolle spielte. Anders als in Deutschland wurde die Kinder- und Jugendbuchforschung in Österreich erst Ende der 90er Jahre etabliert, das dürfte eine Wiederentdeckung auch nicht eben befördert haben.

Foto: Stella
„Vevi“ ist laut der Encyclopaedia Britannica eine „außergewöhnliche Erzählung über eine Persönlichkeitsspaltung – rätselhaft, aufregend und tiefgründig“. Wie stehen Sie zu dieser Interpretation, und spiegelt sie sich in Ihrer Bühnenfassung wider?
Ich würde es weniger pathologisch formulieren: Die magische Erschaffung eines Ebenbildes, einer Doppelgängerin, die alles das auslebt, was verboten ist, ist eine kindliche, fantastische Strategie mit den teils absurd wirkenden Regeln einer Erwachsenenwelt umzugehen. Diese surreale und tiefenpsychologische Dimension bekommt in unserer Fassung definitiv Raum. Vevis aus einer Wurzel erschaffene Doppelgängerin ist ein magisches Wesen, aber zugleich natürlich ein „ausgelagerter“ Anteil Vevis. Mit Hilfe des Wurzelmädchens fragt Vevi sich: Wer bin ich? Wer will ich sein? Wo ist mein Platz?
Der Roman ist 70 Jahre alt. Welche dramaturgischen Anpassungen waren nötig, um die Geschichte für ein junges Theater-Publikum im Jahr 2025 zugänglich und spannend zu machen?
Kurz und knapp: Nicht viele Anpassungen, die tatsächlich dem Alter des Romans geschuldet sind. Ein guter Stoff bleibt ein guter Stoff. Aber natürlich verlangt die Adaptierung des Romans für die Bühne Eingriffe.
Die verschwimmenden Grenzen zwischen Realität und Illusion beschäftigen uns heute stark – Stichworte wie Fake News oder die Frage nach Wahrheit und Täuschung. In Kinderliteratur wird Fantasie oft als positive Zauberkraft verstanden. Doch kann Fantasie auch ambivalente Seiten haben?

Ich glaube, man darf Fantasie nicht mit bewusst und strategisch eingesetzter Manipulation gleichsetzen. Über dem Eingang des Next Liberty steht: „Die Fantasie irrt sich nie.“ Fantasie, wie sie in der (darstellenden) Kunst – nicht nur für junges Publikum – ein essenzieller Bestandteil einer Erzählung sein kann, ist ein Kunstmittel. Eine wissentlich verbreitete Lüge im öffentlichen Diskurs hat mit Fantasie im obigen Sinne nichts zu tun. Natürlich ist es gerade im Theater für junges Publikum extrem wichtig, Themen wie die Fake-News-Problematik sichtbar zu machen. Es klingt widersprüchlich, aber das lässt sich auch mit Fantasie adressieren!