Mit Roman „Orkus“ schließt Gerhard Roth seinen bereits zweiten Zyklus ab, und beendet damit ein literarisches Mammutprojekt. In nicht weniger als 32 Jahren veröffentlichte Roth im Zuge seiner beiden Zyklen „Archive des Schweigens“ und „Orkus“ 15 Bücher im Umfang von 6.000 Seiten. „Achtzig“ besuchte Österreichs erfolgreichsten Schriftsteller der Gegenwart und sprach mit ihm über die Versuche, das Leben zu verstehen, selbst auferlegten Druck und vorgegaukelte Illusionen…
Sie selbst bezeichnen den Schreibprozess für „Orkus” als einen, bei dem die Improvisation im Vordergrund stand – ist dies für Sie die spannendste Herangehensweise, ein Buch zu schreiben?
Ich stelle für mich keine Regeln auf, sondern denke bei jedem Buch über die geeignete Methode nach… In den beiden Zyklen habe ich verschiedene literarische Möglichkeiten untersucht: den Kriminal- und den Reiseroman, Essays, die Autobiografie, den Bericht, usw. Das war jedes Mal eine Herausforderung, die ich auch brauche.
Nach dem „Alphabet der Zeit” ist „Orkus” ebenfalls stark biografisch angelegt. Sie beschreiben es als einen Versuch, das Leben zu verstehen, ist Ihnen dieser Versuch gelungen? Wenn ja, würde mich Ihre Erkenntnis interessieren.
Das Schreiben ist immer ein Versuch, das Leben zu verstehen und es ist wohl nicht möglich eine allgemein gültige Erkenntnis daraus zu gewinnen – abgesehen von Banalitäten. Orkus ist ein Selbstportrait, eine Momentaufnahme der Gedanken in meinem Kopf. Das Problem ist, dass das aus der Erinnerung heraus geschieht.
Der Begriff „Orkus” steht für das Reich der Toten. Welche Rolle spielen die Toten in unserer heutigen Gesellschaft? Ist der Tod zu recht ein gut behütetes Tabuthema?
Natürlich ist der Tod in unserer Gesellschaft tabuisiert. Er findet zumeist ohne die Anwesenheit eines Angehörigen im Krankenhaus statt und die Mehrzahl sieht den Verstorbenen dann nicht mehr und geht beim Begräbnis hinter einem Sarg her, der auch leer sein könnte… Wir haben vieles, was wir besitzen und benutzen von den Toten – den Namen, die Sprache, einen größeren Teil unserer Erkenntnisse und Kunstwerke, also die Welt, die sie hinterlassen und wir vorgefunden haben. Aber das ist merkwürdiger Weise nur wenigen bewusst, da alles, was mit der Welt der Toten zusammenhängt, wie ein gutes oder schlechtes Märchen klingt.
Wieso ist es so schwer, das Bewusstsein zu erlangen, dass man nur ein Leben hat und es dementsprechend zu würdigen?
Weil alles, unser Denken, unsere Vorstellungen, unsere Hoffnungen und Ängste – vom Denken der Toten besetzt ist, von jahrhunderte–, jahrtausendealten religiösen Begriffen beispielsweise oder politischen, philosophischen Ideen. Die Menschen werden mit diesen Ideen erzogen, die das eigene Denken in eine bestimmte Bahn lenken.
Mit dem Roman „Orkus” vollenden Sie den gleichnamigen Zyklus (Der weitere Zyklus „Archive des Schweigens” war bereits abgeschlossen). Die beiden Zyklen umfassen 15 Bücher mit 6.000 Seiten – gab es in Ihrem bisherigen Leben genügend Platz für Familie und Freunde? Würden Sie gewisse Dinge im Nachhinein anders machen?
Diese Fragen kann ich nicht beantworten, weil die Literatur, das Schreiben mich so stark beschäftigen und beschäftigt haben, dass ich gar keine andere Wahl hatte. Ich habe ein schwieriges, aber oft auch bewegendes und bereicherndes Familienleben. Es ist untrennbar mit meinem Alltag verbunden. Freundschaft ist etwas Seltenes und Kostbares. Vielleicht habe ich darüber don quichotehafte Vorstellungen.
Wie hoch war die gesundheitliche Belastung während den beiden Zyklen?
Die Belastungen waren außerordentlich und haben auch meine Gesundheit angegriffen. Gleichzeitig habe ich mich während der Arbeit sozusagen in einer Art zeitlosem Raum befunden und nur nebenbei bemerkt, dass ich älter werde. Umso stärker spüre ich jetzt die 32 Jahre, die während der Arbeit an meinen beiden Romanzyklen vergangen sind. Rückblickend haben sich die Erinnerungen aus meinem realen Leben mit der Welt über die ich geschrieben habe, vermischt… Wenn ich an eine Jahreszahl denke, fällt mir zumeist als erstes ein, was ich damals geschrieben habe. Der Druck, unter dem ich durch mich selbst gestanden bin, war oft nur durch Alkohol oder Psychopharmaka zu ertragen. Dazu kam dann auch die Überwindung der Nachwirkungen am nächsten Morgen, diese Tage habe ich als besondere Qual in Erinnerung.
Sie haben vor, in absehbarer Zeit aus dem öffentlichen Leben auszusteigen – was sind die Gründe dafür?
Ich habe bei öffentlichen Auftritten, besonders bei Lesungen, viel Energie verbraucht. Ich habe nie einen öffentlichen Auftritt wirklich genossen – leider. Ich habe mich immer gut vorbereitet und andererseits auch das Geld gebraucht. Lesungen können einem Schriftsteller vorgaukeln, er sei etwas Besonderes – aber das sind Illusionen. Worauf es ankommt, ist das Schreiben selbst. Die eigentliche Belohnung ist der Arbeitsprozess, auch wenn er zerstörerisch sein kann. Ich möchte mich in meinen letzten schöpferischen Jahren darauf konzentrieren.
Die meisten Ihrer Bücher rücken Außenseiter in den Mittelpunkt, gab es oder gibt es Zeiten, in denen Sie sich selbst als Außenseiter fühlen?
Eigentlich immer. Das Schreiben bringt es mit sich, dass man zumeist aus einer Position der Schwäche heraus denkt, ohne dabei aber wehleidig zu sein. Selbstmitleid ist tödlich für einen schöpferischen Menschen, glaube ich, ebenso wie eingebildete Stärke oder Wichtigkeit.
Mit welchem Alter wussten Sie, dass Sie Schriftsteller werden wollten, gab es so etwas wie ein Schlüsselerlebnis?
Man kann kein Künstler werden, es muss schon von Anfang an etwas im Kopf geben, das einen dazu macht. Ich bin in mein zweites Leben, das vielleicht mein erstes ist, hineingewachsen. Erst nachträglich ist mir bewusst geworden, dass es verschiedene Menschen, Begegnungen, Ereignisse gab, die alle eine gewisse Rolle gespielt haben und mir klargemacht haben, dass ich Schriftsteller bin.
In Ihrem Roman „das Labyrinth” schwärmt „der Schriftsteller” von Fernando Pessoa als einen der größten Schriftsteller aller Zeiten. War er auch für Sie persönlich ein Vorbild, was macht ihn zum Paradeschriftsteller?
Pessoa war kein Vorbild, dafür habe ich das „Buch der Unruhe“ viel zu spät kennen gelernt, als ich längst meinen eigenen Stil gefunden hatte. Und er ist auch alles andere als ein Paradeschriftsteller. Er war, soweit ich weiß, ein sehr scheuer, zurückhaltender Mensch, der das durchschnittliche Leben gesucht hat, das Alltägliche. Und er hat erkannt, dass er aus zumindest zwanzig Persönlichkeiten – zumeist Schriftstellern, besteht. Fünf von ihnen hat er eine eigene Existenz, eine eigene Sprache geschenkt. Er hat ihre Lebensläufe aufgeschrieben, und sie untereinander sogar korrespondieren lassen. In jedem von ihnen steckte er selbst. Er hatte die eigenwilligsten Gedanken und schrieb existenziell, surrealistisch oder klassisch… und in jeder seiner Sprachen war er unverwechselbar und großartig.
Einer Ihrer wichtigsten Begleiter auf Recherche im In- und Ausland war und ist ihr schwarzes Notizbuch – verwenden Sie es nach einem bestimmten System, oder notieren Sie spontan?
Ich mache meine Notizen nur spontan. Auch meine fotografischen Notizen entstehen aus dem Augenblick heraus. Aber es sind keine Schnappschüsse. Ich hasse Schnappschüsse. Ich empfinde es als notwendig, dass ich mich meinem fotografischen Gegenüber stelle, es auf mich aufmerksam mache. Beim Notieren gehe ich meinen Wahrnehmungen und Eingebungen nach.
Vor Ihrer Zeit als hauptberuflicher Schriftsteller waren Sie im Rechenzentrum beschäftigt und dabei umgeben von Computern und Technik. Begrüßen Sie die immer moderner werdende Technik innerhalb unserer Gesellschaft, machen Sie diese für sich selbst zu nutze?
Man kann nicht sagen „die“ Technik. Ein Atomkraftwerk ist ebenso Technik wie ein i-Pad. Ich bin alles andere als ein Technik-Freak. Aber ich benutze einen Fotoapparat, ich schreibe zwar mit der Hand, verwende jedoch auch einen Laptop. Ich möchte in meinem Verhalten nicht stehen bleiben.
Viele Ihrer Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt (Spanisch, Italienisch, Englisch, Französisch, Russisch,…) Neuerdings kommt es zur Übersetzung von „Der Plan“ ins Englische für den amerikanischen Markt. Wie stehen Sie zu amerikanischer Literatur generell?
Ich bin in meinem Denken ein Kosmopolit und schließe von vornherein keine Kultur aus. Außerdem ist das, was wir unter amerikanischer Literatur verstehen, sehr heterogen. Thomas Pynchon oder David Foster Wallace sind etwas ganz anderes als zum Beispiel John Updike oder Phillip Roth. Natürlich halte ich mich auch in der amerikanischen Literatur am Laufenden.
Neben dem Schreiben lieben Sie es zu reisen und haben bereits zahlreiche Länder kennen gelernt. In welcher Kultur haben Sie sich am wohlsten gefühlt?
In der Vielfalt, die Vielfalt fasziniert mich. Wohin ich auch komme, entdecke ich Neues. Es ist das Reisen selbst, das mich anregt. Wenn ich in ein fremdes Land komme, schärft gerade die Fremdheit meine Wahrnehmung und je mehr ich sehe, höre und erfahre, desto mehr suche ich das Neue, Fremde.
Text: Stefan Zavernik