Mit dem Komponisten Franck Bedrossian und dem Sänger Holger Falk baut die KUG ihr international einzigartiges Kompetenzzentrum für Neue Musik aus.
Der Jänner 2017 brachte für die Kunstuniversität Graz einen guten Start ins neue Jahr. Das italienische Fachmagazin Classic Voice hatte mehr als 100 Experten aus ganz Europa versammelt, um eine – in diesem Bereich doch äußerst seltene – Hitliste der wichtigsten avancierten Kompositionen des 21. Jahrhunderts zu ermitteln. Aus dieser wiederum ergab sich auch eine Art Ranking der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten. Gleich mehrere österreichische oder mit Österreich verbundene Künstler wurden darin an prominenter Stelle angeführt. Und davon hatte wiederum die Mehrheit eines gemeinsam: Sie lehrten an der Kunstuniversität Graz.
Insgesamt kamen damals 74 Komponisten ins Spiel, schon unter den 10 meistgenannten fanden sich drei Lehrende der KUG. Weitere „Grazer“ folgten dicht darauf. Trotz berechtigter Skepsis gegenüber Rankings dieser Art wurde durch die Umfrage doch einmal mehr die europaweit einzigartige Bedeutung der Kunstuniversität Graz für zeitgenössisches Musikschaffen unterstrichen. Georg Friedrich Haas – KUG-Absolvent sowie (damals noch) Lehrender und laut Classic Voice wichtigster lebender Komponist der Welt – hat dazu eine Anekdote geliefert: In New York, wo er an der Columbia University unterrichtet, würde er immer wieder auf das „Genie-Eck“ in Graz angesprochen – sogar ob es dort eine neue Wiener Schule gebe, werde er gefragt. Nein, so seine augenzwinkernde Antwort, hier sei vielmehr die erste Grazer Schule entstanden …
Der Begriff „Grazer Schule“ dürfte Haas, so vermessen er aufs Erste klingen mag, nicht ganz zufällig eingefallen sein. Denn eine große Grazer Besonderheit ist, dass mehrere hier tätige, international (und daher auch im italienischen Ranking) herausragend positionierte Komponisten schon in der Murstadt studiert haben. Neben Haas selbst wären da etwa Bernhard Lang und Klaus Lang zu nennen. Von gelungener Aufbauarbeit würde ein Sportjournalist hier sprechen.
Einer, der – mit Unterbrechungen – seit 1985 bis zu seiner unlängst erfolgten Emeritierung für diese verantwortlich zeichnete, ist Gerd Kühr. Seit 1995 ordentlicher Professor und Leiter einer Kompositionsklasse an der KUG, hat der in Kärnten geborene Komponist das Grazer Musik-Biotop geprägt wie wenig andere. Zuletzt ließ Kühr mit einer musikalischen Antwort auf die aktuelle weltweite Ausnahmesituation aufhorchen: seiner für das Festival styriarte initiierten Uraufführung Corona-Meditation, einer im virtuellen Raum umgesetzten Live-Konferenz für beliebig viele Klaviere. Im März 2020 ist an der KUG mit dem Franzosen Franck Bedrossian nun ein prominenter Nachfolger angetreten.
Paris – Berkeley – Graz
Bedrossian, in der Classic-Voice-Umfrage übrigens exakt gleichauf mit Olga Neuwirth und Arvo Pärt, wurde 1971 in Paris geboren. Er lernte am Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris und war als Rom-Preisträger Fellow an der Villa Medici. Am IRCAM, dem Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique im Centre Pompidou in Paris studierte er zudem Computermusik, auch Helmut Lachenmann zählt er zu seinen Lehrern. Bedrossian selbst unterrichtete zuletzt an der elitären University of California, Berkeley, in den USA. Seine Werke werden von zahlreichen renommierten Orchestern oder Ensembles und auf den wesentlichen Festivals für Neue Musik in Europa, Russland, in den USA und Südamerika interpretiert.
Zu diesen Ensembles zählt auch das von KUG-Professor Beat Furrer gegründete Klangforum Wien, eine der weltweit renommiertesten Formationen für die Interpretation Neuer Musik. Das Klangforum ist ein weiterer wesentlicher Baustein für das international einzigartige Grazer Labor zeitgenössischer Tonkunst. Im Rahmen einer kollektiven Professur deckt es hier den Bereich der Interpretation ab und bietet mit dem Studium der Performance Practice in Contemporary Music (PPCM) zeitgenössisch informierte Aufführungspraxis für die musikalischen Klangwelten unserer Tage. Bislang musste sich dieses Angebot auf Instrumentalmusik beschränken – seit kurzem gibt es an der KUG aber auch PPCM vokal. Verantwortlich dafür ist der deutsche Bariton Holger Falk.
Neues Vokals
Holger Falk verbindet eine große Leidenschaft mit dem zeitgenössischen Musiktheater. Zahlreiche neue Partien wurden eigens für ihn geschrieben. Falk veröffentlichte auch eine Gesamteinspielung aller 115 Mélodies von Francis Poulenc (MDG) sowie (2017/18) Interpretationen von Liedern Hanns Eislers (Lieder Vol. 2 und Lieder Vol. 3). Für die aktuellste dieser CDs wurde er 2019 u. a. als „Sänger des Jahres” nominiert. Und er hat z. B. Wolfgang Rihms große Hauptpartien gesungen: Jakob Lenz an der Nationaloper Warschau und Dionysos am Theater Heidelberg sowie auf Einladung von Gérard Mortier den Cortez in Die Eroberung von Mexico am Teatro Real Madrid. Ein Konzert mit dem Bariton hätte am 11. Mai 2020 unter dem Titel PPCM vokal im abo@MUMUTH stattfinden sollen, die Coronakrise hat das leider unmöglich gemacht. Das Grazer Publikum wird sich zumindest bis Herbst 2020 gedulden müssen, um die neuen KUG-Professoren auf diesem oder auf anderem Weg kennenzulernen.