Kunst sucht nach neuen Formen des kollektiven Handelns und Seins. Das Wir steht am Prüfstand und wird mit Blick auf das Zusammenleben und den Klimawandel auf seine Wirkkraft getestet.
Text: Natalie Resch
Körper an Körper. In einer hockenden Position sitzt eine Person auf den Knien einer anderen, hinter einem. Zusammen bilden sie einen menschlichen Kreis. Und der wiederum ein Wir. Diese Körperübung stand Anfang 2020 sinnbildlich für die Schule des Wir, das Kulturjahrprojekt des Kunstvereins rotor, das Menschen aktiv ins Kunstschaffen miteinbezieht. Die Frage nach Konvivialität steht im Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzung: Wie entsteht eigentlich ein Wir? Mit Blick auf eine Stadt, im Konkreten das Annenviertel, lautet die Frage: Welche Beziehungen und Netzwerke sind vorhanden? Was fördert Beziehungen und das Zusammenleben? „Im März 2020 mussten wir den Prozess im vollen Lauf stoppen. Die Gesamtsituation verlangte enormes Anpassungsvermögen. Im April können wir endlich starten“, so die rotor-Leiterin Margarethe Makovec. Trotz aller Schwierigkeiten sei es gelungen, dass kein Projekt auf der Strecke bleibt, das 2020 nicht realisiert werden konnte, so Stadtrat Riegler. Er sei sich des hohen Maßes an Kreativität und Flexibilität in Bezug auf alternative Präsentationsmöglichkeiten sehr bewusst, die Künstlerinnen und Künstler in den vergangenen Monaten aufbringen mussten. Sichtbar machen wolle man die Leistungen über die Grenzen hinaus, nicht nur national mit der ORF-Fernsehdoku wie wir leben wollen von Günter Schilhan Ende des Jahres, sondern auch international: „Über die Kooperation mit dem zweisprachigen Magazin Creative Austria wird das Kulturjahr, mit einer Bestandsaufnahme, weltweit in allen österreichischen Kulturforen vertreten sein.“ Das Kulturjahr-Finale ist am 7. September geplant.
„In der Schule des Wir ist das Lernen und Weitergeben von Erfahrungen zentral – in alle Richtungen“, betont rotor-Leiter Anton Lederer. Er erzählt von zwei Künstlerinnen, die zum Thema Gruppenerfahrungen und Körpererfahrung eine Rauminstallation für den rotor konzipiert haben. Den für ihre Arbeit wesentlichen Aspekt der Berührung, der Tastsinn, übersetzen sie in Aktionen für Einzelne, die ausgehend von einem Stück Lehm miteinander in Verbindung treten. Das Leitungsduo lädt ein, auch die neue Aufenthaltsqualität der fünf künstlerisch neu gestalteten Plätze im Annenviertel für sich zu nutzen. „Alle fünf verbindet der skulpturale Charakter. Sie sind zugleich konstruktiver Beitrag zur Pandemie, denn wenn Zusammenkünfte nicht möglich sind, gewinnt der öffentliche Raum an Bedeutung. Und: Sie sind Inseln des Verweileins mit hohem Gebrauchswert“, so Lederer. Das Grazer studio ASYNCHROME gestaltet den Metahofspitz neu und sendet Botschaften aus. Eliana Otta lässt am Lendplatz aus nicht mehr gebrauchten Objekten der Marktstandler eine Skulptur entstehen, die mit dem Begriff „care trade“ spielt und fragt: Wer kümmert sich um wen und was?
Programmatisch steht der rotor für den Wechsel zwischen stark lokal verorteter Fragestellung und globaler Ebene. Homeostasis – between Borders and Flows heißt das Kunstprojekt von Daniela Brasil und Nayarí Castillo. Es nutzt das Phänomen Homöostase als Metapher, um die aktuelle Notwendigkeit der Wiederherstellung des Gleichgewichts innerhalb unserer komplexen Lebensumgebungen zu bebildern. „Wir greifen auf indigene Völker und ihr Wissen um kollektive Formen zurück, das sie trotz neoliberalistischer Unterdrückung bis heute bewahrt haben“, so Brasil vom Daily Rhythms Collective.
Lokale und internationale Persönlichkeiten aus den Bereichen Kunst, Ökologie, Urbanismus und Umweltschutz hat das Kollektiv vereint, um die Verbindung von Ökologie und Urbanität neu zu imaginieren. Entstanden sind drei konkrete Projekte, darunter eine großdimensionierte Skulptur am A2-Süd-Autobahnknotenpunkt Graz-Raaba. Inspiriert von der aussterbenden Webetechnik setzt sie sich aus gemeinschaftlichen Nestern zusammen, die wiederum das Vernetzen einzelner Expertisen zu einer kollektiven Autorenschaft symbolisieren.
„In der Beschäftigung mit Klimafragen durch Projekte wie Homeostasis und dem Klima-Kultur-Pavillon befindet sich das Grazer Kulturjahr derzeit in bester Gesellschaft mit den großen künstlerischen Auseinandersetzungen weltweit“, meint Kulturjahr-Programmmanager Christian Mayer.
Die Schule des Wir ab 30. April 2021: < rotor > Zentrum für zeitgenössische Kunst
ab Mai 2021: Marienplatz, Lendplatz, Orpheum, Metahofspitz, Platz der Begegnung
Homeostasis – between Borders and Flows von Daniela Brasil und Nayarí Castillo bis 25. Mai 2021, A2 Süd-Autobahn/Graz Raaba
Club Hybrid
Ort des Aus- und Darstellens, Experimentierens und des Diskurses zu urbaner Teilhabe, Stadtentwicklung und
Hybridität.
Spatenstich des Demonstrativbaus: 12. April
Herrgottwiesgasse 161, Clubhybrid.at
Klima-Kultur-Pavillon des Breathe Earth Collective
Eine ca. 100 m2 große Waldoase lädt zum Verweilen ein und zur Etablierung einer neuen Klimakultur.
Eröffnung: 28. April 2021, Freiheitsplatz, Breatheearth.net
Performative Festivalausstellung „Die Stadt als Datenfeld“
Sie thematisiert das gegenwärtige und zukünftige Leben in einer digitalen (städtischen) Umwelt, die Vernetzung des Einzelnen und der Gesellschaft sowie Big Data. Ein zehnwöchiges Diskursfestival mit internationalen und lokalen Experten begleitet die Ausstellung.
Bis 29. August 2021, Graz Museum, grazmuseum.at
Übersicht aller laufenden Programme: kulturjahr2020.at/termine