Eine Frage, mit der das Kulturjahr auf die Abschluss-Gala am 7. September zusteuert. Es geht um Transformationsprozesse in peri-urbanen Räumen, die Grazer nicht mehr als „normal“ hinnehmen wollen, dystopische Ausblicke auf unsere Heimatidylle und optimistische Interventionen, die von Diversität und Offenheit künden.
Text: Natalie Resch
In normal steckt die Norm. Also eine allgemein gültige – zumindest für eine Gruppe – Regel, die das Zusammenleben festlegt. Seit März 2020 wurde vieles, das als unumstößlich galt – war schon immer so, geht nicht anders –, über den Haufen geworfen. Oder besser gesagt: von der Realität eingeholt. Zum Beispiel: Homeoffice, zu groß war das Misstrauen in die Mitarbeiter. Musste gehen und hat größtenteils auch funktioniert. Die Zukunft der Arbeit muss also neu verhandelt werden.
„ARBEIT VON MORGEN“ ist eines der fünf Themen, dem sich das Kulturjahr von Beginn an widmet. Sie prägt unser Zusammenleben und wirft Fragen nach Gleichberechtigung, Verteilung bei Care- und Pflegeaufgaben und fordert zugleich neue technische und rechtliche Lösungen. Die 94 Projekte des Kulturjahres, die sich mit Arbeit, sozialem Miteinander, Digitalisierung, Umwelt & Klima und Urbanismus beschäftigten, hätten erfolgreich die gemeinsame Kernidee aufgegriffen: „nämlich gemeinsam mit den Grazerinnen und Grazern zu arbeiten, nicht zu repräsentieren, sondern die Bevölkerung einzubinden und zu motivieren: Denn letztlich gestalten wir die Zukunft alle gemeinsam“, so Kulturstadtrat Günter Riegler bei der Pressekonferenz im Club Hybrid. Der Demonstrativbau wird als Veranstaltungs- und Diskursraum genutzt und aufgrund der entspannten Atmosphäre, seiner Offenheit und des dichten Programms auch gern als Festivalzentrale genannt. Das Kulturjahr ist kein Festival: ein Herz tut ihm dennoch gut. Auch wenn es, in der Herrgottwiesgasse 161 beheimatet, für viele Grazer wohl etwas abseits liegt.
Nahe und doch weit weg
Die meisten Menschen leben im peri-urbanen Raum, an der Grenze zwischen Stadt und Land. Eben dort, wo sich diese Grenze zugunsten von Wohn- und Industrieflächen stets aufs Neue verschiebt. Was ist schon normal in Transformationsprozessen, fragt sich das Projekt NORMAL in Form von Interventionen internationaler „urban practitioners“. Dahinter stecken transparadiso, Barbara Holub und Paul Rajakovics. In Waltendorf, Andritz, Liebenau und Wetzelsdorf wurde mit den Bewohnern in kollaborativen Prozessen die kollektive Qualität der Aneignung von öffentlichem Raum ausgelotet. Es geht um sozial engagierte Stadtplanung, die sich ernst nimmt, wenn auch spielerisch. In Wetzelsdorf arbeitet Georg Winter seit 2020 in Kooperation mit der Fachschule für Land- und Forstwirtschaft Grottenhof am TanzPflanzFeld. Über performative künstlerische Interventionen wird dieses mit den umliegenden Bewohnern aktiviert und es wird über Umwidmungsprozesse von Agrarflächen an den Rändern der Stadt in neue Wohnsiedlungen gesprochen, die im Widerspruch zu urban gardening im Stadtzentrum stehen. Am ersten Augustwochenende lädt transparadiso in der Eisteichsiedlung zum „Third World Congress of the Missing Things“. Die Grazer sind aufgefordert, ihre Makro-Utopien zu äußern: Was wünschen sie sich als zukünftige „Normalität“ – in ihrer Nachbarschaft, ihrem Bezirk, in Europa, in der Gesellschaft? Welche Werte für eine inklusive Gesellschaft schlagen sie als neue „Normalität“ vor?
Die Kuh am Wasserweg in die Stadt
Normal ist das sicher nicht. Die schwimmenden Kühe in der Augartenbucht. Ja, der Klimawandel nimmt eigenartige Formen an. In der subversiven Installation Murpod von Total Refusal, einem Guerilla-Medienkollektiv (Leonhard Müllner, Michael Stumpf, Robin Klengel) in Zusammenarbeit mit Jona Kleinlein, Adrian Haim, Susanna Flock rückt das Symbol für Heimat und Naturverbundenheit – die heilige Kuh der Alpen – in den Fokus. Wie natürlich ist die Milchindustrie? Und was passiert, wenn die bereits niederschlagsarmen Regionen der Welt noch stärker von Dürre betroffen sind und niederschlagsstarke Regionen mehr Niederschlag bekommen? Murpod zeigt eine schaurige und zugleich witzige Zukunftsversion mit in der Mur treibenden Kühen. Einem unfreiwilligen Almabtrieb gleich, werden sie aus den niederschlagsreicheren Regionen des Nordens in die Stadt getrieben. Wie das funktioniert? Mithilfe ausgeklügelter Technik und einer bei der Augartenbucht eigelassenen Videowall werden Sequenzen aus dem Computerspiel Red Dead Redemption eingespielt und um ortsspezifische Bilder ergänzt. In typischer Manier für Total Refusal wird auf der Folie von Computerspielen die Grenze zwischen Realität und Spiel verwischt. Als Bojen der Nutztierhaltung treiben die Kühe in der Strömung. Das Glockengeläut schafft eine ländliche Atmosphäre inmitten des inneren Stadtraums. Idylle oder Dystopie? Lustig auf alle Fälle. Und keine Sorge – die Kunstschaffenden garantieren: Es kam kein Tier zu Schaden.
Ich bau mir die Welt, wie sie mir gefällt
Darf man einfach so eine Wiese vor die Oper pflanzen? Normalerweise nicht. Anita Fuchs, Teil des Kollektivs RESANITA, darf das. Das Projekt NATURE! bepflanzt unter Begleitung von Philipp Sengl, in Kooperation mit der Natur.Werk.Stadt und der Abteilung für Grünraum und Gewässer der Stadt Graz die öffentliche Grünfläche mit 50 verschiedenen Arten von Wildpflanzen. Die entstehende bienen- und insektenfreundliche Blühfläche soll sowohl Bewusstsein für ökologische Belange wecken als auch real zu einer Erhöhung von Biodiversität im Stadtgebiet fuhren. Die besondere 50-Arten-Mischung sei schon öfters angefragt worden und wird auch an anderen Orten zum Einsatz kommen, wie im Innenhof des KULTUMs.
Am Beginn der Zukunft liegt das Jetzt
Bis zum Ende des Kulturjahres mit der Abschluss-Gala auf den Kasematten am 7. September, bei der das Theater im Bahnhof Regie führt und die renommierte Experimentalphysikerin Ille C. Gebeshuber eine Rede hält, gibt es täglich zehn Veranstaltungen. Diese Dichte sei aber kein letztes Aufbäumen, denn „das Kulturjahr ist kein Selbstzweck. Mit seinen einzelnen Projekten ist es nichts Geringeres als die Arbeit an einer intakten Gesellschaft“, so Programmmanager Christian Mayer. Stadtrat Riegler zeigt sich ebenso positiv: „Ich bin auf Gebeshuber gestoßen und mochte ihre optimistische Sicht auf die Zukunft.“ Die Bestseller-Autorin wirft in „Eine kurze Geschichte der Zukunft“ einen Blick in die Zukunft, in der der Unterschied zwischen realer und nicht-realer Welt nur noch marginal sein wird. Ihre These: Wurde die Vergangenheit vom Glauben dominiert und die Gegenwart vom Wissen, könnten in der Zukunft Glauben und Wissen verschmelzen.
NORMAL – 3rd World Congress of the Missing Things
31.7. & 1.8., Waltendorf,
Parkplatz Pfarre St. Paul
transparadiso.com
Murpod / Almabtrieb
Eröffnung: 31.7., 20.30 Uhr,
Augartenbucht
Installation: 1.–26.8.,
täglich 20.30–22 Uhr, Augartenbucht
Nature! – Wildpflanzen für Graz von Anita Fuchs
Rasen vor der Oper, frei zugänglich
anitafuchs.at
Übersicht aller laufenden Programme: kulturjahr2020.at/termine