Die Schriftstellerin Gertrude Maria Grossegger im Gespräch mit „Achtzig“ über die unbändige Natur der Südoststeiermark, die Angst vor Ziffern und die Poesie des Staunens.
Text: Sigrun Karre
Ihre Texte in der aktuellen Ausgabe der manuskripte sowie auch Ihr mit dem Ava-Literaturpreis prämierter Prosatext „Augen machen“, der in der aktuellen Ausgaben der LICHTUNGEN zu finden ist, kreisen thematisch um das Sehen. Wofür steht dieses Sehen?
Das Sehen ist Beschreibung, erst wenn ich versprachliche, sehe ich. Meine Welt schreibend zu erschaffen, lässt mich an der Welt Anteil nehmen, lässt mich Welt sehen. Die Sprache kann da sein, sie kann sich mir aber verschließen, so habe ich auch keinen Zugang zur Welt. Jeder sieht Welt in einem anderen „Kleid“, es wird nie die eine Welt geben, Worte sind Material, um Welt zu beschreiben, um Welt zu sehen, es bleibt immer ein Versuch. Jedenfalls versuche ich mir nicht nehmen zu lassen, was Welt sein kann, und sie kann mehr sein, als sie sich mir vordergründig zeigt.
Die Natur spielt eine „Hauptrolle“ in „Augen machen“. Welchen Einfluss hat Ihre Umgebung für Ihr Schreiben?
Immer trete ich in Resonanz mit dem Raum, der mich umgibt, das kann das Land sein, das kann die Stadt sein, das kann das Dazwischen sein. Bei Augen machen war es mir wichtig, ein Umfeld aufzuzeigen, das in eine ländliche Welt führt. Das Land interessiert mich, die Menschen, die dort leben. Ursprünglich sind wir alle Landmenschen gewesen, haben dadurch eine unbestimmte Sehnsucht in uns. Jeder Mensch hat eine andere Vorstellung, projiziert etwas hinein in dieses Land, das verklärt und verkitscht auf Glanzpapier als Idyll frischgehalten wird. Im Text zeigt es sich grundlegend, als „Grundgelegtes“. Die Natur der oststeirischen Gegend zeigt sich ganz anders als jene, in der ich aufgewachsen bin und die von Kargheit und extremen Gegensätzen geprägt war. Die Natur in der Oststeiermark lässt mich nach vierzig Jahren immer noch staunen, sie ist üppig, liebt zu wuchern und über sich hinauszuwachsen, ist nicht zu bändigen beinah, wirft sich in voller Pracht in den Frühling, überlässt sich dem Wachstumstrieb, geht wie barfüßig ins Volle, nimmt es auf mit der Hitze des Sommers, so dass Schattenplätze wie jener unter dem „Nussbaumwaschel“ zum Kostbarsten des Gartens werden. Dieser Baumriese, der in unserem Garten steht, spielt eine tragende Rolle in Augen machen. Im Herbst, beinah selbst überrascht von seinem Auswuchs, lässt er sich wie erschöpft fallen, wirft seine Blätter ab und übersät ob seines gigantischen Ausmaßes alles, wirklich alles, mit seinem monströsen Laub. Im Winter ist es die Ruhe des Gartens, die sich überträgt auf die Arbeit, Schreibruhe, die nicht „Nichtstun“ bedeutet, die das Gegenteil von Schreibabstinenz bewirkt, und Vögel füttern und Vögel füttern und Vögel füttern, und einheizen und einheizen und einheizen, und vom Verreisen träumen und gleichzeitig die „Felldecke ausbreiten und den Winterschlaf antreten.“
Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?
„Es“ hat begonnen mit dem Schreiben selbst, die Freude an den Buchstaben war immer schon enorm groß, die Angst vor Ziffern auch.
Was brauchen Sie, um schreiben zu können?
Meine Hand, ein Blatt Papier, einen Bleistift, gern auch Ruhe, und gern auch einen Menschen um mich, der mich sein lässt, der mich in meinem Tun lässt und mir das Gefühl gibt, es passt, egal, was ich tue, und egal, was herauskommt und ob überhaupt etwas herauskommt dabei.
Wie wichtig ist für Sie Anerkennung für das Geschriebene?
Eine meiner „Übungen“ ist auch, mich freizuspielen von jeglicher Anerkennungssucht, im Wissen, dass jedenfalls Freude aufkommt, wenn es Anerkennung gibt, dass die Motivation gestärkt wird, die Zweifel weniger sind, für kurze Zeit. Langfristig ist es mir wichtig, mir mit meiner Arbeit zu genügen, und ich bin streng mit mir, das dürfen Sie mir glauben.
Sie haben einmal in einem Interview gesagt, Sie hätten einen poetischen Zugang zur Welt. Wie definieren Sie für sich Poesie?
Das habe ich gesagt? Ich staune. Ja, ich staune, ich möchte staunen. Das ist es, ich möchte staunen können, ich möchte das Staunen nicht verlieren, möchte das Staunen üben. Ja, vielleicht ist es das, vielleicht ist Poesie das, was der staunende Blick vermag. Vielleicht ist Poesie das „Vielleicht“, das Ahnen und das Nicht-sicher-Sein, das Nicht-Wissen und der Versuch, den Blick nicht zu verlieren, für das Unaussprechliche, für das „Dahinterliegende“, für das Nicht-Offensichtliche, der Versuch, immer wieder zu versuchen, den Blick für das vermeintlich Nebensächliche zu finden.
Gertrude Maria Grossegger, geboren 1957, lebt und schreibt in der südöstlichen Steiermark. Neben zahlreichen Gedichtbänden, zuletzt das Langgedicht „zwirnen“, verfasste sie einen Prosaband „so stumm sind die fische nicht“, den Roman „Wendel“ und 2017 ein Kinderbuch „Fritz fliegt“ mit Bildern von Walter Titz. Die Autorin hat bereits zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Frau Ava Literaturpreis 2021. Texte von ihr finden sich auch in der aktuellen Ausgabe der Literaturzeitschrift manuskripte und in den aktuellen LICHTUNGEN mit dem Frau Ava Literaturpreistext.
„Du musst erst einmal hineingehen in dieses Land, sagt sie zu sich selbst, so weit musst du dich erst einmal hineinlassen und dich dann auf es einlassen. Das ist nicht nur so ein Hinkommen, nicht nur so ein Einziehen, in irgendein Haus einziehen, das ist grundlegend, wie Grundgelegtes so richtig grundlegend zu werden droht, es dir den Boden unter den Füßen wegzieht dabei.“
aus: Gertrude Maria Grossegger: „Augen machen“