Die Arbeit des Netzwerkkunstvereins mur.at könnte man auch als den „Lebensnerv der freien Szene” bezeichnen. Seit Jahrzehnten bemüht sich mur.at um den freien, fairen Zugang zu digitalen Werkzeugen für Kunst- und Kulturschaffende.
Text: Lydia Bißmann
Gar nicht weit weg vom namensgebenden Stadtfluss Mur, unweit vom bunten Treiben des Augartenparks ist der Verein mur.at beheimatet. Vielen ist er ein Begriff, haben doch um die 400 Mitglieder der freien Grazer Kunst- und Kulturszene, wie Forum Stadtpark, Mezzanin Theater, Theater im Bahnhof, Camera Austria u. v. m. hier ihre E-Mail-Postfächer und Webseiten gehostet. Weniger bekannt ist vielleicht die Tatsache, dass der Verein auch eine intellektuelle und operative Heimat für digitale Kunst anbietet und diese aktiv fördert. In der Leitnergasse stehen die Server, gibt es eine Künstlerinnenwohnung für Artists in Residencies, werden Podcasts aufgezeichnet, Workshops angeboten und auch Publikationen auf echtem Papier produziert.
Eine Heimat für Webseiten und Co.
Der Verein wurde 1999 von Reni und Jogi Hofmüller, Winfried Ritsch und Wolfgang Reinisch gegründet. In den ersten Jahren stand die Schaffung von Internetzugängen zur künstlerischen Nutzung im Vordergrund. Inzwischen geht es um infrastrukturelle Notwendigkeiten und das Bemühen, die Arbeit der freien Kunst- und Kulturszene mit technischen Mitteln zu erleichtern. Über 1.000 User nutzen dieses unkommerzielle und lokal in Graz betriebene Alternativangebot zu Google, Apple und Co. Open-Source-Werkzeuge für digitales künstlerisches Arbeiten werden bereitgestellt. Neben E-Mail-Lösungen, Webspace und Mailinglisten gibt es Tools für Videokonferenzen und Datenwolken. Zu fairen Bedingungen, made in Styria, ohne Ausbeutung der Nutzerdaten. Der Serverraum wird mit Ökostrom gekühlt, regionale Dienstleister bevorzugt und es gibt strenge Regeln zu Fair Pay oder Genderfragen. Abgerechnet werden die Leistungen für die Community über einen fluiden Jahresbeitrag.
Der „solidarische Mitgliedsbeitrag” – kurz SoMiBe – funktioniert wie eine Versteigerung, bei der jedes Mitglied ein Angebot abgeben kann. Manche zahlen mehr als der Schnitt, andere können, wenn es finanziell eng ist, weniger abgeben. Das Programm ist eigens für diesen Zweck von Jogi Hofmüller geschrieben worden. Wer die Gründer von mur.at kennt, weiß, dass sie zu den Menschen zählen, die lieber im Hintergrund aktiv sind und sich sogar ungern fotografieren lassen. Seit einem Jahr ist Andreas Zingerle, Medienkünstler aus Innsbruck, neben drei weiteren Angestellten (Ralph Wozelka, Christiana Wallner und Djamil Vardag) als Geschäftsführer im Verein tätig. Zingerle möchte die wichtige Arbeit des Vereins sichtbarer machen – für Fördergeber wie etwa die Stadt Graz und das Land Steiermark, die die Infrastruktur des Vereins unterstützen, aber auch für alle anderen. Eine Chance bietet dafür das Jahresthema für 2022 (Un)sustainability. Es trifft den Nerv der Zeit, soll aber auch Lösungen anbieten. Lösungen, die mur.at seit über zwanzig Jahren ohnehin ständig sucht, findet und für alle anbietet.
Ökologie und Fairness per Mausklick
Dass Serverfarmen Stromfresser sind, ist bekannt. Was man dagegen tun kann, oft weniger. Genau da bietet mur.at nicht nur Abhilfe, sondern will auch zum Denken und Handeln anregen. Wie vor dem Obstregal im Supermarkt können User auch bei der Wahl ihres Webhosters auf ihren CO2-Fußabdruck achtgeben. Es ist eigentlich ganz einfach – je kürzer das Glasfaserkabel, über das die Information verschickt wird, desto besser für die Umwelt.
mur.at will den Diskurs mitgestalten und nicht zuletzt die Mitglieder der Community ein wenig „erziehen“. Mit Präsentationen, Ausstellungen, Diskussionen, Workshops und Publikationen widmet sich der Verein im kommenden Jahr diesem brennenden Thema Nachhaltigkeit. Alle Aktivitäten finden im regen Austausch mit anderen Vereinen (KIG – Kultur in Graz, ESC Medienkunstlabor, Atelierhaus Schaumbad, Spektral), Galerien, akademischen Institutionen (Kunstuniversität Linz, Institut für Medienarchäologie St. Pölten) und Medienkunstfestivals statt. Ein Hackathon (eine Wortschöpfung aus „Hack“ und „Marathon“), bietet die Möglichkeit, innerhalb der kurzen Dauer der Veranstaltung kreative, nützliche oder unterhaltsame Hard- und Software Prototypen zu programmieren.
Der Netzpolitische Abend ist eine legendäre Veranstaltungsreihe aus Wien, die im Frühjahr in Graz Premiere feiert. Vortragende haben dabei 15 Minuten Zeit, über ihr Forschungsthema zu referieren, bevor es mit dem Publikum gemeinsam diskutiert wird. Workshops beschäftigen sich mit virtuellen Ausstellungen, nachhaltiger Webprogrammierung oder Archiven im Netz. Gerade für die freie Szene sind Lockdowns am laufenden Band eine sehr große Herausforderung, die die ohnehin prekäre Lage noch mehr verschlechtert. Formate zur Präsentation von Kunst im Netz sind eine Alternative, müssen aber neu oder überhaupt einmal gedacht werden. Wissen online zu archivieren und vor allem einen barrierefreien Zugang dafür zu ermöglichen, ist seit der Erfindung des Internets Thema. Inzwischen geht es auch hier um sorgfältigen Umgang mit Ressourcen und das Loswerden von Ballast, was auch in Zukunft einen umweltfreundlichen Umgang mit Daten ermöglicht. Um Demokratie, Filter-Bubbles, Verschwörungstheorien und allgemein die Verschiebung von Öffentlichkeit in die oft dunklen Sphären des Internets geht es bei Podcasts und der Radiosendung Netzrauschen, die über Radio Helsinki on air geht. Krönender Abschluss der lebendigen, bunten und über die Grenzen der Worklabs hinaus stattfindenden Aktivitäten ist die Abschlussausstellung im November 2022. Ob on- oder offline steht in den Sternen – fix ist, dass sie auf jeden Fall ihre Spuren in der Stadt hinterlassen wird.
Infos zu Jahresprogramm und Kontakt: www.mur.at