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Ein Blick in das Innerste der Zirkusseele

Gravity Foto: Jim_Kroft

Der „Cirque Noël Graz“ feiert heuer sein 15-jähriges Bestehen und holt dafür internationale Spitzenproduktionen ins Grazer Orpheum. Intendant Werner Schrempf erklärt, was sich hinter der Körperkunst in Perfektion verbirgt und warum der Neue Zirkus das Publikum besonders in Krisenzeiten ermutigen kann.

Mit spielerischer Leichtigkeit bildet die Companie „Gravity & Other Myths“ eine mehrstöckige ­Menschenpyramide, in schwindelerregender Höhe wirbeln Körper durch den Bühnenraum. „Zu zeigen, was der Mensch mit Ausdauer alles erreichen kann, macht Mut“, sagt Werner Schrempf beim Anblick der australischen Bewegungskünstler, die längst zu den Stammgästen von „La Strada“ zählen. Das Straßentheaterfestival feierte in diesem Sommer sein 25. Jubiläum in der Grazer Innenstadt. Sein winterliches Pendant, der „Cirque Noël“, ging vor 15 Jahren erstmals über die Bühne. Gründer, Intendant und Geschäftsführer beider Festivals ist der Grazer Werner Schrempf. Er ist das viertälteste von fünf Geschwistern und vergleicht die Entwicklung seiner Festivals gerne mit dem Lebensalter eines Menschen. „Mit 15 bzw. 25 Jahren hat man die Jahre des Zurechtfindens hinter sich. Man ist bereit, Verantwortung zu übernehmen und raumschaffend zu sein.“

Werner Schrempf
Foto: Nikola Milatovic

Ohne Verantwortung kein Vertrauen

Verantwortung ist für Werner Schrempf ohnehin ein Kernmotiv. „Wir laden unsere Künstler nicht nur für Auftritte ein. Wir gestalten produzierende Festivals. Oft sind wir schon beim ersten Casting, bei der allerersten Probe dabei“, sagt er. Durch die langjährige Kooperation hat sich Schrempf das Vertrauen auf Seiten der Künstler erarbeitet und ein weltweites Netzwerk geknüpft, das bis nach Australien und Nordamerika reicht. Erst unlängst kehrte er von einem Treffen aus Kanada zurück. „Montreal ist der Hotspot für den zeitgenössischen Zirkus. Neben mehreren Creationcentern gibt es hier auch eine universitäre Ausbildung für junge Artisten“, schwärmt er. Schrempfs Augen funkeln, wenn er über seine Leidenschaft, den zeitgenössischen Zirkus, spricht. „Der Zirkus war schon immer ein fantastischer Ort. Er liefert den Menschen Zerstreuung.“ Doch der Intendant suchte schon früh nach einem neuen Weg für das traditionelle Veranstaltungsformat. Künstlerinnen und Künstler zeitgenössischer Zirkusproduktionen greifen Elemente des klassischen Zirkus auf und interpretieren diese neu, erzählen Geschichten und setzen sich mit aktuellen Fragestellungen auseinander.

Entgegen dem landläufigen Optimierungstrend, dass Veranstaltungen immer spektakulärer sein müssen, um sich der Aufmerksamkeit des Publikums sicher zu sein, setzt Schrempf auf Nachhaltigkeit und Individualität: „Unsere Künstler sind nicht austauschbar, sie verstecken sich nicht hinter einer Maske oder in einem Kostüm. Ihre Persönlichkeiten spielen eine tragende Rolle auf der Bühne.“ Vom mechanischen Aneinanderreihen von Tricks hält er nichts. „Wir versuchen einen anderen Weg zu gehen“, sagt er. „Wir wollen dem Publikum einen Blick in das Innerste der Zirkusseele gewähren.“ Aus diesem Grund fokussiert sich das Zirkusprogramm des Cirque Noël stets auf die Artisten, deren phänomenale Körperbeherrschung und die Geschichten, die beim Publikum spürbar werden. „Wir möchten uns und die Menschen auch ein Stück weit herausfordern. Wir wollen nicht nur das Vorhandene bedienen, sondern uns mit Blick auf die Zukunft stetig weiterentwickeln. Wir haben ja auch kein ewiges Leben“, so Schrempf.

Gardi Hutter & Co mit Gaia Gaudi empfohlen ab 8 Jahren
25.–29.12.2022, Orpheum Graz
Foto: Hajo Schüler

Internationale Spitzenproduktionen zu Gast in Graz

In diesem Winter holt der Cirque Noël drei Produktionen ins Orpheum Graz. Für den Auftakt am 21. Dezember sorgt die spanische Compañía de Circo „eia“ mit der Produktion NUYE, in der sich sechs spanische Artisten mit dem Gefühl der Unvollständigkeit auseinandersetzen. Ab dem 25. Dezember steht dann die fast 70-jährige Clown-Legende Gardi Hutter aus der Schweiz auf der Bühne. Ihr Stück GAIA GAUDI widmet sich den Themen Leben und Tod sowie dem Wechsel der Generationen. Vom 3. bis zum 8. Jänner sorgen „Gravity & Other Myths“ mit der Produktion OUT OF CHAOS… für ein atemberaubendes Finale. Auch Workshops bietet der ­Cirque Noël an. Für wen ist ein Besuch beim Cirque Noël Graz das Richtige? „Es ist wunderschön, wenn mehrere Generationen gemeinsam in die Vorstellung kommen“, antwortet Schrempf. Und jeder findet seinen eigenen Zugang zur Geschichte. Denn Schrempf scheut auch die Auseinandersetzung mit kritischen Themen nicht: „In unseren Produktionen gehen wir Fragen nach wie: Was beschäftigt die Gesellschaft? Wie gehen wir miteinander um?“ Als Beispiel nennt er ein Projekt des kanadischen Künstlerkollektivs „The 7 Fingers“, das derzeit entsteht und im nächsten Jahr zum Cirque Noël kommen soll.  Die Artisten bringen die politische Spaltung, die aktuell auf dem gesamten Globus zu beobachten ist, in einer Abwandlung von Shakespeares Tragödie Romeo und Julia auf die Bühne. „Im Zentrum stehen zwei Familien, die aufeinanderprallen und am Ende das Wesentlichste zerstören, das sie haben, nämlich ihre eigenen Kinder.“

Compañía de Circo „eia“ mit NUYE empfohlen ab 6 Jahren
21.–23.12.2022, Orpheum Graz
Foto: Filo Menichetti

„Kunst muss anecken dürfen“

Widerspricht das kritische Hinterfragen nicht dem Bedürfnis der Menschen nach Ablenkung vom Alltag? „Sich unterhalten lassen zu wollen ist ein legitimer Wunsch“, antwortet Schrempf. „Aber Kunst muss Lust machen und anecken dürfen. Sie soll nicht langweilig sein“, ist er überzeugt. „Außerdem bietet das Theater oft Lösungen an, indem es uns auf die wesentlichen Themen des Menschseins hinweist.“ Und das seien eben Liebe und Vertrauen. „Bei einem dreifachen Salto muss der Akrobat darauf vertrauen können, dass ihn der andere auffängt“, erklärt Schrempf und erzählt von der Produktion The Pulse, welche im Sommer bei La Strada zu sehen sein wird. 24 Artisten und 36 Chormitglieder werden gleichzeitig auf der Bühne der Oper Graz stehen. „Über die Körper wird in den Choreografien erzählt, dass sich am Ende alles auf das Miteinander – eben auf The Pulse reduziert. Dass wir gemeinsam mehr erreichen können als der Einzelne, der in seiner eigenen Welt zurückgezogen lebt und dann am Ende vielleicht in eine Situation kommt, in der er das Außen nur mehr als Verschwörung gegen den Einzelnen wahrnimmt“, so Schrempf. Für die Zukunft von „La Strada“ und „Cirque Noël“ hat sich der Grazer ehrgeizige Ziele gesetzt. „Was uns vorschwebt, ist die Etablierung eines Kreationszentrums für performative Künste in Graz. Junge Künstler sollen Produktionen unter guten Bedingungen entwickeln und sie so aufbereiten können, dass sie damit international erfolgreich sind.“  Die Entwicklungsphase beziffert Schrempf mit fünf Jahren, wobei man natürlich von den wirtschaftlichen Veränderungen in der Zukunft abhängig sei. Bis es so weit ist, will der Grazer weiter die junge Künstlerszene fördern. Was sich Schrempf außerdem wünscht, ist mehr Inklusion in Kulturbetrieben. „Nach wie vor werden viele Menschen ausgegrenzt. Wir müssen den Menschen zuhören und ihnen Fragen stellen. Das sind Dinge, die Künstler gut können und die wir als Kuratoren ernst nehmen sollten.“     

Cirque Noël Graz: Die Zirkusgeschichten zur Weihnachtszeit

Cirque Noël Ticket- & Infohotline: 0316 269 789, tickets@cirque-noel.at

www.cirque-noel.at