Andrea Scrima ist die aktuelle Stadtschreiberin und wird noch bis zum August 2024 über den Dächern von Graz ihre Arbeiten verfassen. Ihre Texte sind politisch und geben Details aus dem zugegeben sehr aufregenden Leben der amerikanisch-deutschen Literatin preis.
Text: Lydia Bissmann
Um Andrea Scrima besuchen zu können, kann man zu Fuß gehen oder sich für eine Berg- und Talfahrt mit dem Schloßberglift entscheiden. Dort wird man mit Klängen von Brian Eno beschallt, eine Installation des Elevate Festivals. Dass einem in Graz Kultur auf Schritt und Tritt begegnet, ist auch der neuen Stadtschreiberin aufgefallen, die seit Herbst im Cerrini-Schlössl residiert. „Das kulturelle Angebot ist überdimensional groß und vielfältig“, betont Andrea Scrima, die in New York geboren wurde und den größeren Teil ihres Lebens in Berlin verbrachte. Unter 74 Schriftsteller*innen aus 28 Ländern wurde sie für das historische Amt ausgewählt, das es schon im Mittelalter gab und 1989 in neuer Form wiederbelebt wurde. Mit Graz verbindet sie aber noch mehr. Der Droschl Verlag veröffentlichte ihre beiden Romane Wie viele Tage / A Lessser Day (2018) und Kreisläufe / Like Lips Like Skins (2021)auf Deutsch, für die heimischen Literaturzeitschriften Schreibkraft und manuskripte ist sie regelmäßig als Autorin tätig. In der aktuellen manuskripte-Ausgabe Nr. 242 findet sich ihr Essay Von Brachflächen, Feen und Philipp Jenningers umstrittener Rede vor dem (west)deutschen Bundestag. Mit dem manuskripte Verlag gibt es auch einen regen Austausch mit der Online-Literaturzeitschrift StatORec, für die sie als Chefredakteurin tätig ist. Hier werden ins Englische übersetzte Texte von manuskripte-Autor*innen wie Andreas Unterweger, Kathrin Röggla oder Verena Stauffer dem amerikanischen Lesepublikum nähergebracht.
Metamorphose und künstlerischer Selbstmord Die Kunstkritikerin, Autorin, Journalistin und bildende Künstlerin verließ als junge Frau 1984 New York, um in Berlin an der Hochschule der Künste zu studieren. „Damals war New York dreckig und gefährlich. Ich wollte etwas anderes sehen.“ Mittlerweile lebt sie fast doppelt so lange in der deutschen Hauptstadt wie in der amerikanischen Millionenmetropole, hat hier ihren Sohn groß gezogen und sich als bildende Künstlerin etabliert. 2020 nahm sie die deutsche Staatsbürgerschaft an und verfügt seitdem über zwei Reisepässe. Geplant war das von Anfang an nicht. „Ich habe im Laufe meines Studiums Deutsch gelernt und mir ist vorgekommen, dass das schon ein großes Stück Anstrengung gewesen ist. Deswegen habe ich mir gedacht, dass ich damit noch etwas anstellen könnte.“ Vom Zurückkehren hielt sie aber nicht nur die neue Sprachressource ab, auch der Verlauf der Ereignisse im Berlin Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre tat ein Übriges dazu.
Die Stadt meiner Eltern, meiner Großeltern und Urgroßeltern war New York, und ich empfand die Zeit, die ich nicht dort verbrachte, als ständig wachsenden Verlust. (…) Aber Berlin übte eine merkwürdige Macht auf mich aus, als wäre es meine Pflicht zu bleiben, bis ich zumindest teilweise begriffen hatte, was dort geschehen war.*
Eine blühende Kunst-Szene in Ostberlin, wo nach dem Mauerfall in einer Art Niemandsland jeden Tag neue Galerien aufpoppten, unterstützte ihren Weg als renommierte Künstlerin mit bis zu elf Ausstellungen im Jahr, die auch international zu sehen waren. Peu à peu nahm der Text einen immer größeren Anteil in ihren Arbeiten ein. Die Bildbeschreibungen wurden ausführlicher, eroberten Wände und ganze Räume. Anfangs noch als Typografie mit der Hand auf die Wand aufgemalen, dann vorgefertigt aufgeklebt, wurden die Worte immer dominanter, bis sie schließlich als eine Kurzgeschichte auf Papier auftauchten und die Metamorphose von der bildenden Künstlerin zu Schriftstellerin vollzogen. „Es war nicht so leicht, nach meinem ‚künstlerischen Selbstmord‘. Ich stand anfangs vor dem Nichts und musste komplett neu anfangen.“ Inzwischen ist ihr dritter Roman in Arbeit, sie schreibt Essays und Kritiken für Times Literary Supplement, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Music & Literature, The American Scholar, LitHub und The Brooklyn Rail und ist als Übersetzerin tätig. 2007 erhielt sie für die Kurzgeschichte Sisters einen Hackney Literary Award. Für die Kleine Zeitung verfasst sie in unregelmäßigen Abständen während ihres Graz-Aufenthaltes eine Kolumne. Auch in ihrem künftigen Roman wird sie ihre eigene Geschichte dafür verwenden und sich auf die Suche nach den Wurzeln ihrer Familie in Süditalien begeben. Eine Essay-Sammlung mit dem Titel Displaced wird sich mit der Situation von Migrant*innen der zweiten und dritten Generation beschäftigen.
Verletzlichkeit als Stärke
Ihre Essays verbinden sorgfältig recherchierte Fakten und Anekdoten mit lyrisch verfassten Alltagsbeobachtungen und Fragmenten aus der eigenen, geschichtsträchtigen Biografie. Immer wieder spielt die deutsche Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung eine Rolle.
In Berlin lebten die Geister der Vergangenheit in der sonderbaren Kartographie der Stadt fort, und wir, die wir von außerhalb dorthin kamen, spürten ihre Gegenwart besonders stark.*
In ihren Romanen beherrscht sie wie ihre Kolleginnen Annie Ernaux oder Monika Helfer perfekt das Spiel mit Nähe und Distanz. Sie gibt sich verletzlich und offen, schreibt über eine schwierige Mutterbeziehung oder eine Abtreibung, ohne je exhibitionistisch oder aufdringlich zu werden. Ihre gut konstruierten Essays, die teils über eine sehr lange Leseliste verfügen, sind nicht weniger literarisch, geben sich innig, gehen unter die Haut. Nicht nur die stimmige Struktur, auch die Beschäftigung mit Farben, Formen und Flächen lassen die bildende Künstlerin hervorblitzen. Man wird hineingezogen in Andrea Scrimas Texte, muss mit- und nachdenken, was auch schmerzlich sein kann. Sie gibt sich Gedanken und Assoziationen hin, verzichtet aber auf überflüssige Kommentare und Kinkerlitzchen, ist nie belehrend, obwohl sie die Welt mit ihrer pragmatisch-feinstofflichen Art und ihren scharfen Beobachtungen schon sehr gut erklären kann. Egal, ob es nun um Privates wie den Erhalt einer neuen Nationalität oder um Politisches wie die Auseinandersetzung mit einer falsch verstandenen Gedenkrede zur Reichskristallnacht mit Folgen 1988 geht. 1988 mag vielleicht lange her sein, die Parallelen zu aktuellen Entwicklungen und dem Umgang mit Krieg und Krisen sind fast körperlich spürbar. Eingebettet sind diese scharfen Beobachtungen und Reflexionen in sinnlich-schöne Sätze, die aber trotzdem die kluge Kritik der Denkerin Andrea Scrima in jeder Silbe in sich tragen.
Das Überdauern von Ruinen, diesen Lücken in der Ordnung der Dinge, ist sichtbares Zeugnis der Vorläufigkeit jeder politischen Ordnung: Darin liegt ihre Bedeutung. Und in diesen Ruinen, zwischen dem Efeu und dem wuchernden Gestrüpp, wohnen all die Gnome und Kobolde, die Elfen und Zwerge und erstrahlen in moosigem Grün, der einzigen Farbe des deutschen Regenbogens, der ein überirdisches Leuchten gelingt.*
Weblog von Andrea Scrima: andreascrima.wordpress.com
*manuskripte 242, Dezember 2023, Von Brachflächen, Feen und Philipp Jenningers umstrittener Rede vor dem (west)deutschen Bundestag, Andrea Scrima