„Achtzig“ sprach mit dem gefeierten Schweizer Theaterregisseur über sein Stück beim steirischen herbst, die politische Verantwortung der Kunst und die Zukunft Europas.
Für das Stück „Empire“ sind Sie sogar in die Bürgerkriegsgebiete des Nahen Ostens gereist. Gibt es etwas, das Ihnen zu gefährlich ist?
Im Vorfeld von Empire wollte ich in Aleppo drehen, Aleppo war aber unzugänglich. Das habe ich dann nicht gemacht, weil so eine wirkliche Disbalance zwischen Einsatz und möglichen Konsequenzen entstanden wäre. Bei Empire haben dann mein Schauspieler und ich im Nordirak und in Nordsyrien die Kamera selber gemacht, weil kein Kameramann mitkommen wollte. Das muss man respektieren. Aber ich bin kein Stadttheaterregisseur, ich kann nicht über Dinge sprechen, die ich nicht gesehen oder erlebt habe, wenn auch vielleicht nur in Ansätzen. Worüber spricht man sonst eigentlich?
In „Empire“ geht es um die Fragen: Was ist Flucht, was ist Heimat, wie wird das Gesicht des Neuen Europa aussehen? Liefert das Stück konkrete Antworten darauf?
Das Stück basiert auf vier Lebensgeschichten von vier Schauspielern aus Griechenland, Rumänien, Kurdistan und Syrien. Die Antworten sind jeweils individuell. Aber ich denke, dass sie für sehr viele Schicksale sprechen und, metaphorisch, für unsere Zeit stehen. Wir gehen im Stück auch in der Familiengeschichte der Schauspieler weiter zurück. Das ist eine Geschichte, die das Entstehen Europas, wie wir es heute kennen, durchzieht. Eine Vorgeschichte der Migrationen und Identitätsbildungen.
Sind die Filmaufnahmen aus Syrien und dem Irak reines Recherchematerial oder werden diese in „Empire“ auch gezeigt?
Das Stück beginnt mit einer Schiffaufnahme: Man fährt über den Tigris, vom Nordirak nach Nordsyrien. Am Ende sieht man einen Anschlag, der kurz danach in Quamishli passiert ist, und dann gibt es noch einen Besuch eines der Schauspieler am Grab seines Vaters. Dieses Material bestimmt Prolog und Epilog des Stücks.
Über eines Ihrer Projekte wurde einmal geschrieben: „Wo die Politik versagt, hilft nur die Kunst“. Wie sehr steht die Kunst in Zeiten wie diesen in der Verantwortung, eine politische Aussage zu treffen?
Ich glaube, dass in der Realpolitik Widersprüche meist eher verdeckt als aufgezeigt werden. Wenn du beispielsweise in den Ostkongo fährst, wo ein Krieg mit 6 Millionen Toten tobt, erzählt dir die UNO, du seist in einer „post conflict zone“ – man wird aber seltsamerweise ständig Zeuge von Massakern und Vertreibungen. Diesen Widerspruch zwischen dem, was man sieht, und dem, wie es offiziell erzählt wird, schließt die politische Kunst. Sie gibt eine Anschauung von etwas in seiner Widersprüchlichkeit, das aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen – oder einfach aus Desinteresse – verdeckt und negiert wird. Insofern ist die Kunst fast schon anti-politisch oder meta-politisch, indem sie Antagonismen aufmacht, die es in der Tagespolitik nicht gibt. Die Kunst schafft Räume, wo Konzentration, Gemeinschaft und auch Widerspruch möglich und sichtbar werden.
Mit Ihrem Projekt „Das Kongo Tribunal“ haben Sie einen Volksprozess mit über 1.000 Teilnehmern gegen die kongolesische Regierung, die UNO, die internationalen Rohstoffkonzerne und die Milizen organisiert – mitten im Bürgerkriegsgebiet. Wie gefährlich war es, dieses Projekt umzusetzen? Angeblich sind zwei Ihrer Berater verschwunden?
Die Berater sind wieder freigekommen – gegen etwas Lösegeld. Natürlich gab es bei uns, wie bei jedem Tribunal, Schwachstellen im Sicherheitskonzept. Wir haben selbstverständlich so weit wie möglich alle Zeugen anonymisiert, an geheimen Wohnorten untergebracht und vorbereitet. Auch das Team haben wir so weit wie möglich geschützt. Aber absolute Sicherheit gibt es nicht im Bürgerkriegsgebiet.
Denken Sie, dass ein „Kongo Tribunal“ abseits der Bühne in absehbarer Zeit durch Ihr Stück Realität werden könnte?
Unser Kongo Tribunal war ein Versuch, erstmals mit kongolesischen Richtern, mit Richtern aus Den Haag, mit einer internationalen Jury und mit drei konkreten Fällen ein internationales Wirtschaftstribunal vor Ort zu schaffen. Das hat eine Signalwirkung entwickelt: Die kongolesische Anwaltskammer hat jetzt unter Vorsitz unseres leitenden Untersuchungsrichters die sogenannten „chambres mixtes“ gegründet, Strafverfolgungs-Kammern aus nationalen und internationalen Richtern, die sich der insgesamt über 600 Fälle von Massengewalt im Ostkongo annehmen.
Wie politisch darf Theater eigentlich sein? Glauben Sie, dass es viele Menschen überfordert, mit bestimmten aktuellen Themen dann auch noch im Theater konfrontiert zu werden?
Natürlich. Aber ich denke, dass sich die Europa Trilogie – und auch Empire – doch sehr vom üblichen politischen Theater und auch von meinen anderen Inszenierungen unterscheidet. Es wird versucht, kurz aus diesem ständigen Strom der Information hinauszukommen und eine kollektive Konzentration herzustellen. Empire ist absolut reduziertes, pures Erzähltheater. Ich glaube, das ist eine Art Unterbrechung dieses ständigen hysterisch, moralisch-alarmistischen Newsstroms, in dem wir stecken. Es ist ein Hinabtauchen in eine Form von öffentlicher Psychoanalyse.
Wie würden Sie die Zukunft Europas aus Ihrer Sicht beschreiben?
Ich denke, wir leben in einer unglaublich interessanten Zeit, wo wirklich Entscheidungen gefragt sind. Was wird das Wirtschaftssystem, das Rechtssystem, das politische System, das politische Subjekt des vereinigten Europa sein? Das sind alles offene Fragen. Und deshalb glaube ich, ist politische Kunst aktuell so wichtig, weil die künstlerisch ausprobierten Antworten und Möglichkeitsräume eben nichts anderes als mögliche Realisierungsräume für eine Zukunft Europas sind.
Empire: Fr, 14. Oktober & Sa, 15. Oktober 2016, 19.30 Uhr, Schauspielhaus Graz
www.steirischerherbst.at
Zwischen Totentanz und Grenzwanderung
„Wir schaffen das“ lautet das Leitmotiv des steirischen herbst 2016. Ein Vorgeschmack auf zwei Produktionen, die sich mit der Zukunft Europas beschäftigen.
Europa. Krise. Brennpunkt. Zukunft? Europa ist Thema. In den Medien, im Alltag und auch beim steirischen herbst. Late Night und Willkommen in der Europaschutzzone, sind zwei Produktionen aus dem diesjährigen Programm, die mit Zukunftsszenarien spielen und dabei nach Antworten auf gegenwärtige gesellschaftspolitische Fragen suchen.
„Es war sehr schön Europa, es hat uns gefreut.“ So könnte der Subtext zu Late Night, einer Produktion des 2004 in Athen gegründeten Theaterkollektivs Blitz Theatre Group, lauten. In einer apokalyptischen Welt sind drei Frauen und drei Männer übriggeblieben. Sie erzählen von damals. Von einem europäischen Krieg. Sich erinnern sich. An eine glücklichere Zeit. Und sie tanzen. Einen Walzer nach dem anderen. Late Night ist ein Abgesang auf Europa, eine Dystopie im Dreivierteltakt, die ein durch Krieg, Terror und Anarchie geprägtes Europa zeigt und im Rhythmus zwischen schlichter Melancholie und feinem Humor hin und her schwingt.
Wie manifestieren sich Grenzen und wie werden sie gelebt? Wo und inwieweit verändern Fluchtbewegungen das Verhältnis zu ihnen? Und mit welchen Grenzen leben wir in 20 Jahren? Fragen, die aktueller denn je sind und von Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura direkt an die Grenze nach Leutschach verlagert werden. Auch wenn die Grenze in der hügeligen Landschaft nur schwer auszumachen ist und es selbst zu Zeiten der Republik Jugoslawien hier weder Grenzbarrikaden noch Zäune gab, soll sich das nun ändern.
In Willkommen in der Europaschutzzone nimmt das rennomierte Dokumentartheater-Duo sein Publikum mit auf eine performative Wanderung entlang der grünen Grenze zwischen Österreich und Slowenien. An mehreren Stationen erzählen zwei Schauspieler und eine Schauspielerin von politischen, gesellschaftlichen und landschaftlichen Eingriffen, geben Einblick in internationale, lokale und ganz private Sichtweisen und rekonstruieren die Geschichte der Grenzziehung in der südsteirischen Region.
Late Night – Blitz Theatre Group (GR)
- September & 1. Oktober; 19.30 Uhr, Hugo Wolf Saal, 8430 Leibnitz
In griechischer Sprache mit deutschen Untertiteln
Willkommen in der Europaschutzzone – Eine Grenzwanderung
Regine Dura/Hans-Werner Kroesinger (DE)
8., 9., 14. & 15. Oktober; 15 Uhr / Kniely Haus, 8463 Leutschach
Teilnahme nur mit gültigem Reisepass
Steirischer Herbst: Ticktes & Infos Tel. 0316 816 070 / info@steirischerherbst.at
www.steirischerherbst.at