Die documenta14 bricht alle Rekorde. Noch nie hatte sie so große Ambitionen, noch nie so viele Besucher. Und noch nie stand sie so sehr in der Kritik.
Text: Stefan Zavernik
Zu lesen war von „Krachend gescheitert“, „Kuratoren-Getöse“ oder „Hauptsache, es klingt kompliziert“. Wohl nur wenige documentas in der Geschichte hatten mit solch harscher Kritik zu leben. Eröffnet wurde das Trommelfeuer der Medien schon vor dem offiziellen Startschuss. Zu unergründbar schien die Zweiteilung des Kunstereignisses durch den aktuellen künstlerischen Leiter Adam Szymczyk. Er gab „seiner“ documenta den Titel „Von Athen lernen“ und entschied sich dafür, die gleichen Künstler mit anderen Kunstwerken zusätzlich auch in Athen zu zeigen, und zwar bevor man in Deutschland eröffnen würde. Doch trotz medialer Skepsis, der Besucheransturm auf Kassel blieb ungebrochen. Seit dem 10. Juni ist die weltweit größte Ausstellung für moderne Kunst in ihrem deutschen Heimatort angekommen und steuert unbeirrt einem neuen Besucherrekord entgegen. Arbeiten von über 160 Künstlern werden an mehr als 32 Standorten im Stadtgebiet von Kassel gezeigt. Gesamtbudget: über 43 Millionen Euro. Ein Blockbuster-Event mit unzähligen Selfie-Motiven? Fehlanzeige. Leicht konsumierbar ist an der documenta14 gar nichts, auch erklärt wird kaum etwas. Und Selfie-Motive muss man suchen. Dennoch rechnet man bereits mit mehr als einer Million Besucher. Das Land Steiermark, in Vertretung von Kulturlandesrat Christopher Drexler, ermöglichte einer Delegation von steirischen Kulturschaffenden, Künstlern und Journalisten, sich ihre eigene Meinung zu bilden und die legendäre Großausstellung selbst zu erleben. Begleitet wurde die Gruppe von der fachkundigen Leiterin des Grazer Kunsthauses, Barbara Steiner, dem Chef des Universalmuseums Joanneum, Wolfgang Muchitsch, und dem Grazer Kulturstadtrat Günter Riegler. Eine fruchtbare Erfahrung für alle Beteiligten.
Eine Großausstellung mit politischem Auftrag
Gegründet wurde sie im Jahre 1955 im Rahmen der deutschen Bundesgartenschau vom Kasseler Kunstprofessor Arnold Bode. Dieser nutzte die Ausstellung, um den Menschen für jene Kunst die Augen zu öffnen, die als „entartet“ während der NS-Zeit aus Deutschland verbannt wurde. Seither vergrößerte sich die documenta stetig und gilt heute als weltgrößte Ausstellung für moderne Kunst. Sie gleicht einem riesengroßen Museum, das alle 5 Jahre für 100 Tage seine Pforten öffnet. Neben ihrem politischen Auftrag wird von ihr erwartet, neue Trends und Tendenzen der zeitgenössischen Kunst zu erkennen sowie junge Künstler zu entdecken. Diesem Anspruch wollte Chefkurator Adam Szymczyk mit der documenta14 offenbar bewusst nicht nachkommen, genauso wie er dem internationalen Kunstmarkt kaum Berührungspunkte zugestand. Viele der gezeigten Künstler spielen am Kunstmarkt keine wahrnehmbare Rolle, sind alles andere als jung oder bereits verstorben oder stammen aus Weltregionen, die für internationale Galerien keine Bedeutung haben. Darüber hinaus wird der Großteil der gezeigten Arbeiten ohne Beschreibung präsentiert, selbst den Künstlernamen sucht man neben den Werken meist vergeblich. Schnell stellt sich die Frage: Ist diese Orientierungslosigkeit, in die Besucher gestoßen werden, beabsichtigt, oder nur Ergebnis eines chaotischen Kuratoren-Teams? Ersteres. Für Szymczyk soll eine Ausstellung eine Erfahrung sein, der man ohne vorprogrammierte Erwartungen entgegentritt. Besucher bleiben deswegen in Kassel komplett auf sich alleine gestellt, weder gibt es einen Katalog zur Ausstellung, in dem sämtliche Kunstwerke erfasst und besprochen werden, noch Hilfestellungen in den Ausstellungsräumen. Wer mehr über Gesehenes wissen möchte, muss selbst recherchieren oder an einem der „Spaziergänge“ in Kassel teilnehmen, den Führungen der documenta. Vieles bleibt für Halbprofis unter den Kunstinteressierten dennoch unverständlich. Eine unumstößliche Gewissheit hingegen wird jedem Besucher mit ziemlicher Sicherheit klar werden: Die Hauptfrage auf der documenta14 beschäftigt sich nicht damit, was internationale Gegenwartskunst heute ausmacht, sondern welche Probleme unsere Welt dorthin gebracht haben, wo sie heute steht, nämlich nahe am Abgrund. Oder wie Szymczyk meint: „Die Menschheit befindet sich in einer lebensbedrohlichen Situation.“ Es geht um Krieg, Vertreibung, Sklaverei, Völkermord und kapitalistische Ausbeutung. Kunst wird so zum Seismograph unserer Welt, völlig frei von den Vorgaben des internationalen Kunstmarktes und auf diese Weise zu einem ganz speziellen Erlebnis.
Die Schrecken der Menschheit werden spürbar
Wer die documenta14 erstmals besucht, sollte einen Versuch besser bleiben lassen: alles sehen zu wollen. Die 32 Standorte bieten eine dermaßen hohe Dichte an Kunstwerken, dass es unmöglich ist, alles an einem Wochenende unterzubringen. Der Großteil der Kunst verlangt zwingend, sich ihr intensiv zu widmen, um ihre Ideen auch nur ansatzweise zu erfassen. Einfach durch die verschiedenen Ausstellungen zu rasen, bringt nicht viel mehr als leere Kilometer. Was man unbedingt sehen sollte, ist Ansichtssache. Die Ausstellung im Fridericianum zeigt erstmals in Deutschland die Sammlung des Athener Museums für Zeitgenössische Kunst, für die in Athen selbst das Geld fehlt und die dort nicht gezeigt werden kann. Vor dem Museum, auf dem Friedrichsplatz, steht das gigantische „Parthenon der Bücher“ von Marta Minujin aus Argentinien. In unmittelbarer Nachbarschaft findet sich das Betonröhrenhaus des Künstlers Hiwa K. Die documenta-Halle reflektiert mit zahlreichen Künstlern die Missstände unserer Welt. Darunter die großartigen Gemälde der Schweizerin Miriam Chan oder die Installation des Künstlers Guillermo Galindo, der Wracks von Flüchtlingsbooten in Klangkörper verwandelt. Auch die Neue Galerie legt den Finger auf offene Wunden, behandelt wird unter anderem die NS-Zeit, Raubkunst oder die Sklaverei. Nur einen Steinwurf von der Neuen Galerie entfernt liegt die Torwache, die mit rund 2.000 zusammengenähten Jutesäcken ummantelt ist und so durch den Künstler Ibrahim Mahama als beeindruckendes Kunstwerk zum Symbol kolonialer Ausbeutung wird. Im Grimm-Museum zeigt man unter anderem den Film Lost an Found von Susann Hiller, eine großartige Arbeit über ausgestorbene, gefährdete und wiederbelebte Sprachen. Ein wenig sprachlos fühlt man sich auch selbst, wenn man sein Erlebnis der documenta14 in Worte fassen möchte. Zu gigantisch ist das Ausmaß der Großausstellung, zu verworren ihr Konzept und zu ungeschminkt ihre politischen Botschaften. Wer sie selbst erleben möchte, hat noch bis zum 17. September Zeit. Der Weg nach Kassel lohnt sich.