In seinem neuen Buch nimmt der Schriftsteller Gerhard Roth seine Leser mit auf eine Irrfahrt durch das faszinierende Venedig. „Achtzig“ sprach mit ihm über die Kunst des lustvollen Sich-Verirrens, das Leben, den Tod und das Schreiben.
Text: Stefan Zavernik
Sie meinten einmal, jeder Mensch werde in einen Irrgarten hineingeboren. Sein gesamtes Leben drehe sich einzig darum, sich darin zurechtzufinden. In diesem Sommer sind Sie 75 Jahre alt geworden – wie gut kennen Sie sich in Ihrem Labyrinth mittlerweile aus? Sind Sie einer möglichen Spur, die zum Ausgang führen könnte, bereits auf die Schliche gekommen?
„Das Labyrinth“ wurde mir zum ersten Mal bewusst, als ich in der Zeit meines Medizinstudiums ein menschliches Gehirn seziert habe. Welche Gedanken, Wahrnehmungen, Gefühle waren durch es hindurchgegangen?, fragte ich mich. Das Gehirn selbst ist ein Labyrinth und es sieht auch labyrinthisch aus. Ich habe dann erkannt, dass das Leben genauso labyrinthisch ist wie das Gehirn. Der Gedanke hat mich so sehr beschäftigt, dass ich das Praktikum ein Jahr später wiederholte. Nicht jedes Labyrinth interessiert mich gleichermaßen, ich habe beispielsweise Gärten, die Labyrinthe sind, eher gemieden. Im Allgemeinen reicht mir das Leben selbst, das ich im Voraus oder nachträglich als Labyrinth erkenne. Zum Lebenslabyrinth gehören für mich vor allem Zufälle. Zum Beispiel hatte ich zwei Namensdoppelgänger im Laufe meines Lebens: Einen Gerhard Roth, Techniker und Forscher im Rechenzentrum Graz, geboren 1942 wie ich, der mir ein halbes Jahr lang und einmal wöchentlich das Labyrinth der neuesten Erkenntnisse und Spekulationen aus dem Bereich der Physik und Astronomie erklärte, damit ich verstünde, warum es keinen Gott gäbe, bis ich aufgrund der immer komplizierter werdenden Vorträge vom Atheisten, der ich bis dahin war, zum Agnostiker wurde. Dann lernte ich – allerdings nur über seine zum Teil großartigen Bücher – den Hirnforscher Gerhard Roth kennen, der – ebenfalls 1942 geboren – meine Kenntnisse über das labyrinthische Gehirn enorm erweiterte, aber an der Frage nach der Schuldfähigkeit bei einem Verbrechen in eine Sackgasse geriet. Beide Gerhard Roth sind oder waren exzellente Denker, aber sie gerieten in die Falle der naturwissenschaftlichen Logik. Ich selbst irre mich natürlich auch immer wieder. Es gibt keinen Ausweg aus dem Labyrinth, in das man hineingeboren wird. Man erfasst immer nur größere oder kleinere Fragmente eines Ganzen oder man bedient sich einer der Fließbandideologien, die für alles eine Lösung anbieten.
Der Tod war in Ihren Büchern immer eines der ganz großen Themen. Was bedeutet er für Sie nun mit zunehmendem Alter?
Wir leben alle mit den Toten: Sie haben uns ihre Namen gegeben, ihr Wissen hinterlassen, ihre Gegenstände, die sie erfunden oder selbst von ihren Vorfahren übernommen haben, die Sprache, die wir als Muttersprache bezeichnen, unsere Gene und damit unsere Eigenschaften, Reichtum oder Armut hinterlassen, Speisen, Getränke und die Rezepte ihrer Zubereitung, die Musik, die sie komponierten, die Bilder, die sie malten, die Bücher, die sie schrieben, die Gebäude, die sie errichteten, die Straßen und Parks die sie anlegten. Der Tod ist immer gegenwärtig, auch wenn wir ihn verdrängen. Wenn geliebte Menschen sterben, ist das eine Art Weltenende. Für die Verstorbenen und in anderer Form für die Hinterbliebenen. Ich habe eine viel größere Angst vor dem Tod eines geliebten Menschen als vor dem eigenen.
Haben Sie eine Vorstellung vom Tod – oder einem „Leben“ nach ihm?
Ich kann mir alles Mögliche vorstellen, aber kein Leben nach dem Tod – er ist der tiefe endlose Schlaf, etwas anderes ist er für mich nie gewesen.
Wie in so vielen Ihrer Bücher werden auch in Ihrem neuesten scheinbar Unschuldige zu Tätern: Denken Sie, dass jeder Mensch letzten Endes zu allem fähig wäre?
Denken Sie an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen – wurden sie von einer Minderheit begangen? Oder an die Roten Khmer in Kambodscha, den Kommunismus in der Stalin-Zeit, die Französische Revolution, die außer Rand und Band geriet. Jeder willige Mitläufer wurde zum Täter.
Was hat sich am Schreiben im Laufe der Jahrzehnte verändert? Fällt es mit zunehmender Erfahrung leichter, literarische Ideen umzusetzen?
Es ist immer dasselbe und doch immer anders. Ich erfahre aber jedes Mal, wenn ich mit einem neuen Buch beginne, dass ich ein Niemand bin, egal, ob ich eine Idee schon länger im Kopf habe oder ob sie mir spontan eingefallen ist. Das Schreiben kommt mir manchmal so absurd vor, als ob jemand allein eine chinesische Mauer bauen will, dann wieder gerät man in einen Zustand der Schwerelosigkeit, alles scheint einem zuzufallen. Das Unbewusste gehorcht eben nicht so, wie man es sich wünscht, man kann es nicht steuern, aber man ist darauf angewiesen.
Ihr gesamtes Werk umfasst weit mehr als 6.000 Buchseiten. Sie selbst haben sich einmal als einen „Schreibsüchtigen“ bezeichnet, der niemals damit aufhören könnte. Hatten Sie jemals in Ihrem Leben so etwas wie eine Schreibblockade?
Ja, eine ziemlich schwere sogar, die eineinhalb Jahre dauerte: Als ich begann, den Landläufigen Tod zu schreiben, hatte ich keine Idee, wie ich das umfangreiche Material so verwenden könnte, wie ich es mir vorstellte. Das heißt, ich hatte nicht einmal eine Vorstellung, ich war vielmehr auf der Suche danach. Ich begann instinktiv, Moby Dick abzuschreiben, und eines Tages stellte ein Imker vor dem Haus in Obergreith insgesamt 40 Bienenmagazine auf. Die Bienen und die sechseckigen Waben aus Wachs gehören seither zu meinem Schreiben: Die Bienen als Tiere aus fliegenden Zellen eines einzigen Körpers und die Waben, die aus sechseckigen Zellen bestehen. Diese später inneren Bilder habe ich im Landläufigen Tod zum ersten Mal bewusst umgesetzt.
Mehr als 30 Jahre haben Sie an den beiden Roman-Zyklen „Orkus“ und „Die Archive des Schweigens“ gearbeitet. Nun folgt der dritte Zyklus: War ein Roman, der für sich komplett alleine steht, gar keine reizvolle Option?
Alle Bücher vor den beiden Zyklen und nach ihnen, die Portraits und der Roman Grundriss eines Rätsels waren Einzelbände. Auch die Bände der Zyklen sind in sich abgeschlossen. Für Venedig interessiere ich mich schon seit fast 50 Jahren. Ich kenne mich in der Stadt ganz gut aus, doch verliere ich immer noch da und dort die Orientierung. In den engen, winkeligen Gassen gehört das Sich-Verirren dazu, wie die Wolken zum Himmel. Bei meinen Besuchen habe ich so viele Gedanken und Ideen angehäuft, dass ich sie in einem einzigen Buch nicht unterbringe.
Der erste Teil der Venedig-Trilogie ist im September veröffentlicht worden. Wer ihn liest, kommt schnell zu der Erkenntnis, dass Sie Venedig wie Ihre Westentasche kennen. Sie führen Ihre Leser immer wieder zu geheimen Orten, die in keinem Touristenführer jemals zu finden wären: Was braucht es, um Venedig wirklich kennenzulernen?
Faszination … Neugier … Zeit … ein gutes Gedächtnis … Bücher … Ausdauer und eine gute körperliche Kondition.
War es ein lang gehegter Traum von Ihnen, der Stadt eine eigens konstruierte Geschichte zu widmen? Welche Erlebnisse haben Sie schlussendlich zur „Irrfahrt des Michael Aldrian“ inspiriert?
Die letzten sechs bis sieben Mal, die ich nach Venedig gefahren bin, hatte ich schon eine Idee. Vieles kommt dann aber erst beim Schreiben und dann wie von selbst. Konstruieren kann ich nicht, alles beruht auf Einfällen. Als Erstes habe ich mir einen Souffleur im Teatro la Fenice vorgestellt und an den großen Brand des Opernhauses, der es fast vernichtet hat. Das hat sich aber im Laufe der Jahre mehr und mehr verändert.
Wie lange haben die Recherchearbeiten zum Buch gedauert und auf welche Art und Weise haben Sie die Stadt erkundet?
Das erste Mal war ich als 12-Jähriger mit meinen Eltern dort. Ich sah den Markusdom, den Dogenpalast und fuhr mit dem Vaporetto. Es war in meiner Erinnerung magisch wie ein chaotischer Traum. Erst 20 Jahre später bin ich das nächste Mal in die Stadt gefahren und von da an immer wieder. Man muss die Kunst, sich lustvoll zu verirren, mögen oder sie erlernen, natürlich auch Venedig-Stadtpläne sammeln und Kunstführer und mehrere von den hunderten Venedigbüchern lesen und trotzdem wird man immer wieder auf Neues stoßen. Ich habe mich zuletzt fast 20 weitere Jahre damit beschäftigt, um die laufende Arbeit an den 15 Bänden der beiden Zyklen Die Archive des Schweigen und Orkus psychisch zu bewältigen.
Wie verbringen Sie Ihre Zeit in Venedig, wenn Sie nicht arbeiten? Gibt es für Sie eine bevorzugte Jahreszeit, um die Stadt zu erleben?
Auf keinen Fall fahre ich im Sommer nach Venedig oder mit einem der riesigen Kreuzfahrtschiffe, die die Stadt zerstören. Aber ich versuche bei jeder Reise einmal, mit ein, zwei Getränken mehrere Stunden im Caffè Florian zu verbringen, mache mir dabei Notizen und fotografiere. Und ich versuche immer, eine bestimmte Buchhandlung aufzusuchen. Zumeist probiere ich aber Neues aus, wenn ich dort bin. Beim letzten Mal auf dem Friedhof San Michele unterhielt ich mich mit einem Falkner, dessen Raubvogel die Möwen verjagte, und er wurde umgehend zu einer Figur im zweiten Teil der Venedig-Trilogie.
Was essen Sie gerne in Venedig?
Meeresfrüchte vom Markt hinter der Rialtobrücke.
Die Venedig-Trilogie ist im Fertigwerden: Gibt es schon Ideen für ein neues Buch?
Darüber rede ich erst, wenn ich es geschrieben habe.