Ein Leben zwischen den Welten: mit der Premiere von „María de Buenos Aires“ am 14. Juni geht die aktuelle Saison der Oper Graz in ihr krönendes Finale. Die Tango-Oper erzählt die Geschichte einer besonderen Frau, der ein mysteriöses und zugleich atemberaubendes Schicksal widerfährt. Im Interview mit „Achtzig“ spricht Regisseur Rainer Vierlinger über schauderhafte Elemente, sonderbare „Aggregatzustände“ und schattenhafte Unterwelten.
Text: Bettina Leitner
Wieso entschieden Sie sich für eine Open-Air-Aufführung auf den Kasematten und welche inhaltlichen Elemente kommen durch die außergewöhnliche Umgebung besonders zur Geltung?
Denken wir an Tango, sind uns allen wohl Klischee-Assoziationen an sinnliche Tanzerlebnisse unter südlich lauem Sternenhimmel bekannt. Nun ist María de Buenos Aires jedoch viel mehr als das. Es ist ein vollwertiges Stück Musiktheater und prinzipiell überall denkbar. Aber die Kasematten bieten uns schon besonders passende Verhältnisse. Viele Szenen spielen im Freien, in den Straßen von Buenos Aires: die schieren Dimensionen des Raumes, zumal entlang der Längsachse bespielt, oder auch die Kraft des alten Ziegelmauerwerks mit den vielseitig nutzbaren Arkaden. Solch ein Ambiente wäre künstlich nicht so einfach herzustellen. Klischee hin oder her, schaden kann die Atmosphäre einer schönen Sommernacht am Schloßberg dem Stück bestimmt nicht.
María gilt als zentrale Figur, welche die Zuschauer auf ihre Reise mitnimmt. Welchen charakterlichen Wandel erfährt María im Laufe der Inszenierung?
Ich bezweifle, ob sich der Charakter, der Wesenskern, unserer Protagonistin im Verlauf ihrer wechselvollen Reise so sehr verändert. Vielmehr sind es andere Lebenssituationen, andere Lebenszustände – oder sollen wir sagen Aggregatzustände? –, in denen sie sich wiederfindet. Vor allem aber ändern sich die Rollenzuschreibungen und Projektionen der Gesellschaft auf sie. Damit spannen sie einen Bogen vom einfachen, unschuldigen Mädchen aus tristen Verhältnissen über die Femme fatale zur Hure und bis zur Heiligen. Damit durchläuft sie das ganze Programm männlicher Erwartungshaltungen.
Die Oper „María de Buenos Aires“ konstatiert sich in stark religiös und mythisch aufgeladenen Bildern, die ein komplexes Gesamtbild ergeben. Wie haben Sie die so unterschiedlichen Elemente zu einem roten Faden verwoben?
Ich denke, diesen Faden haben bereits der Komponist Astor Piazzolla und der Textdichter Horacio Ferrer gewoben. So wie sie uns den Lebens- und Leidensweg Marías erzählen, verknüpfen sie die klassische Tangoerzählung, den Mythos von Aufstieg und Fall des Mädchens aus tristem Vorstadtmilieu, mit dem Surrealismus einer eigentümlich schwebenden Zwischenwelt und verbinden beides mit christlich-religiösen Elementen. Marías Leben weist erstaunliche Parallelen mit dem der Heiligen Maria auf, was wieder auf die Dualität Heilige-Hure referiert. Das ist fürwahr komplex, aber in dieser Verschmelzung von scheinbar Unvereinbarem liegt eben die Qualität und Modernität dieses Werkes. Unsere Herausforderung besteht nun vor allem darin, aus der unerhörten Metaphernfülle des Librettos jene Bilder herauszufiltern, welche die Erzählung und den Abend tragen, auch wenn uns Mitteleuropäern die tiefen Schichten des Textes vielfach nicht zur Verfügung stehen.
Die klassische Oper verbindet man mit langen Arien. Diese Inszenierung lebt aber von den temperamentvollen Tangoeinheiten. Wie harmonieren diese beiden doch unterschiedlichen Elemente?
Die Zeiten der endlosen „Da capo-Ungetümer“, mehr oder weniger sinnvoll verbunden durch noch endlosere Secco-Rezitative, haben wir doch auch in der „klassischen“ Opernwelt hinter uns gebracht. Wir dürfen also Piazzollas Musik nicht unterschätzen! Es handelt sich hierbei um mehr als um temperamentvolle Tangoeinheiten. Er hat bei Nadia Boulanger in Paris klassische Komposition studiert und sich viel mit Jazz beschäftigt. So finden sich hier dreistimmige Fugen und Leitmotivik genauso wie eine ausgeklügelte Tonartenarchitektur und Jazz-Elemente. Demnach ist nichts zufällig oder nur aus Tangomelodienseligkeit heraus entstanden. Ich sage immer „Tango meets Jazz meets Klassik“.
Durch die Ambition des Tangoforschers Ferrer präsentiert sich das Stück als eine bunte Mixtur an unterschiedlichen Tangostilen. Im Rahmen der kommenden Aufführung gibt es diesbezüglich eine Kooperation mit einer Grazer Tanzschule. Wie kam es zur Zusammenarbeit mit einer regionalen Tanzschule und welches Tanzniveau müssen die Grazer Tanzschüler mitbringen?
Diese Stilvielfalt ist nicht zufällig, sondern zeichnet die historische Entwicklung der Tangostile nach, parallel zum Leben Marías. Die Musik der Kindheit Marías in der Vorstadt ist eine andere, ältere als jene, die Marías spätere Lebensphasen begleitet. In unseren bonaerensischen Straßenszenen findet Tango als Tanz natürlich seinen Platz. Mit der Grazer Tanzschule Conny & Dado haben wir dafür einen idealen Partner gefunden. Die 20 Akteure aller Altersstufen betreiben Tangotanzen zum Teil auf Turnierniveau, bei uns sind sie aber gleich doppelt gefordert: darstellerisch mindestens genauso wie tänzerisch. Auf die gute Mischung kommt es an!
Das Stück nimmt durch die mystischen und mythologischen Elemente die Zuschauer mit in eine düstere Unterwelt, in die Hölle, in die Welt der Geister und der Schatten. Wie gelingt es Astor Piazzolla und dem Librettisten Horacio Ferrer, diese schwer fassbaren Seelenzustände in die Tonsprache der Oper zu übersetzen?
María durchmisst tatsächlich mehrere Zeit- und Realitätsebenen und schwer fassbare Unter- oder Schattenwelten, die vielleicht auch nichts anderes sind als Kopfgeburten der Protagonisten. In Lateinamerika hat ein leichtfüßiger Umgang mit solch surreal-schwebenden Raum-Zeit-Zuständen ja durchaus Tradition; man denke an Garcia Márquez oder Allende. Auch Ferrer und Piazzolla wechseln ohne viel Aufhebens wie selbstverständlich zwischen diesen Welten. Es gibt keine großen sprachlichen oder kompositorischen Gesten oder Effekte an den Schichtgrenzen. Eine auffallende Sprachmetapher, unterstützt durch eine Instrumentenfarbe hier, ein heraustretender rhythmischer Akzent oder eine harmonische Wendung da, mehr Moll oder Dur und schon sind wir in einer anderen Welt, einem anderen Seelenzustand. Das ist alles sehr raffiniert, subtil und gekonnt gebaut, verfehlt aber keineswegs seine Wirkung.
Derartige Todesdarstellungen assoziiert man zumeist mit grausamen und beängstigenden Bildern. Auf wie viel Schrecken, Angst und Gewalt müssen sich die Zuschauer in Ihrer Inszenierung einstellen?
Diesbezüglich kann ich Entwarnung geben. Wir verbreiten weder Angst noch Schrecken, explizite Gewalt wird auch keine zu sehen sein, allenfalls strukturelle in Form von männlich dominantem und übergriffigem Verhalten. Wie gesagt, Piazzolla und Ferrer sind beim Transportieren der definitiv auch unangenehmen Themen und Atmosphären viel subtiler zu Werke gegangen. Das ist der vermutlich wirkmächtigere und sicher künstlerisch interessantere Zugang. Den wollen wir auch verfolgen.
María de Buenos Aires von Astor Piazzolla, Tango-Oper in zwei Akten, Libretto von Horacio Ferrer, in spanischer Sprache mit deutschen Übertiteln.
Premiere: Do. 14.6.2018, 20.30 Uhr
Weitere Termine: Fr. 15.6.; Sa. 16.6.; Do. 21.6.; Fr. 22.6. und Sa. 23.6. jeweils um 20.30 Uhr