Milde Temperaturen machen Südfrankreich in den Wintermonaten zum Geheimtipp. Wenn Ende Jänner die Seeigel-Saison offiziell startet, wird die malerische Region rund um Marseille – mit dem azurblauen Himmel und dem tiefblauen Meer – zur Pilgerstätte für Liebhaber außergewöhnlicher Meeresfrüchte.
Strandurlauber fürchten ihn. Vor allem dann, wenn sie mit ihm schon auf schmerzliche Art Bekanntschaft geschlossen haben. Unter Feinschmeckern hingegen ist der Seeigel heiß begehrt und gilt als „Must-Eat“. Die lustvolle und schier endlose Nachfrage nach der stacheligen Delikatesse führte zur Reglementierung des Seeigelfangs in Frankreich, um einer drohenden Überfischung vorzubeugen. Dieser ist nur mehr in den Wintermonaten erlaubt. Ebenso dürfen Seeigel-Taucher keine Sauerstoffflaschen verwenden. Aus diesen Gründen bleibt der „oursin“ (franz. Bezeichnung) in Südfrankreich eine rare Spezialität. Die kleinen Meeresbewohner zählen zur Gattung der Stachelhäuter, ernähren sich von Algen und bevorzugen Korallenriffe als Lebensraum. Für das ökologische Gleichgewicht des Meeres sind sie von großer Bedeutung. Für Feinschmecker ebenso, diese lieben ihr salziges und zugleich süße Aroma und sprechen gerne von einem erotischen Geschmackserlebnis.
Seeigelfest in Sausset-les-Pins
Der offizielle Startschuss zur Seeigel-Saison fällt in Sausset-les-Pins, einem kleinen Fischerdorf an der Côte Bleue, 40 km von Marseille entfernt. Schon die Anfahrt zum idyllischen Küstendorf ist ein Erlebnis für sich. Schroffe Felslandschaften eröffnen immer wieder grandiose Ausblicke auf das dunkelblaue Meer. Einst galt Sausset-les-Pins als beliebtes Urlaubsziel an der „Côte d’Azur der armen Leute“; Künstler wie Paul Cezanne oder Vincent van Gogh nutzten den Charme des Ortes um zu malen. Heute sind die Villen und Grundstücke ebenso teuer wie an der Cote d’Azur – dennoch ist der Ort bodenständig geblieben.
Die Seeigelfeste finden alljährlich an den drei letzten Sonntagen im Jänner, und an den drei ersten im Februar statt. Immer in einem anderen Ort. Im Rahmen eines Sonntagsmarktes wird Besuchern im jeweiligen Hafen die Möglichkeit geboten zu kleinen Preisen bei Wein und Musik fangfrische Seeigel zu genießen. Verspeist werden sie vorzugsweise mit ein paar Tropfen Zitronensaft. Monsieur Emile Ladsous aus dem Veranstaltungskomitee erklärt uns, wie man die harte Schale der „kleinen Freunde“ knackt um an ihren wohlschmeckenden Kern zu kommen. Geöffnet werden sie mit einer Schere. Handschuhe sind hilfreich, für einen Profi aber überflüssig. Mit viel Gefühl nimmt der erfahrene Südfranzose den Stachelhäuter in die Hand – als Schutzmaßnahme reicht ein Tuch – und schneidet den flachen Teil, in dem sich das Mundwerkzeug befindet, kreisförmig heraus. Innereien werden mit einem gekonnten Schütteln aus dem Handgelenk entfernt. Serviert wird dann nur mehr die untere Hälfte, in dem sich fünf kleine Eierstöcke befinden. Fertig. Es kann gelöffelt, oder gleich mit einem Stück Brot im Seeigel nach den Eiern gekratzt werden.
Fischmarkt am alten Hafen in Marseille
Um in den Genuss von frischen Seeigeln zu kommen, finden sich auch abseits der kultigen Feste, der „Oursinades“, zahlreiche Möglichkeiten. So gut wie in jedem ernstzunehmenden Fischrestaurant in der Provence sind sie auf der Karte. Aber klar, am besten schmecken sie mit Blick aufs Meer. Als möglicher Ausgangspunkt um die Küste, oder auch das Landesinnere zu erkunden, bietet sich Marseille an. Spätestens seit 2013, als die geschichtsträchtige Hafenstadt Kulturhauptstadt Europas war, wurde das einst anrüchige Image der Stadt neu erfunden. Überall gibt es neue Lokale, Bars und hippe Geschäfte zu entdecken. Zahlreiche Museen, viele historische Bauten und die charmante Altstadt mit dem Vieux Port, dem historischen Hafen, tragen dazu bei, dass Marseille zu einer ungeheuer charmanten Metropole wurde, und gerade bei jungen Leuten an Attraktivität gewonnen hat. Der hohe Anteil an Einwanderern fügt der Stadt, der Frankreich ihre Nationalhymne zu verdanken hat, seit jeher einen gehörigen Schuss Multikulturalität hinzu. Für Gourmets ist der tägliche Fischmarkt am Quai des Belges ein Pflichtbesuch. Zahlreiche Fischer kommen jeden Tag in den Morgenstunden von ihrem Fang an die Anlegestellen und bauen ihre Stände auf. Zu finden ist alles an frischem Fisch, was der Golf von Lyon zu bieten hat. Auch viele exotische Meeresfrüchte und unzählige Muschelarten werden an den Ständen feil geboten. Natürlich, ein Marktbesuch macht Appetit. Schon rund um den Hafen finden sich etliche empfehlenswerte Fischlokale, zum Beispiel das Chez Roger (28 Quai du Port). Besonders angesagt ist das Miramar, berüchtigt für seine opulente Bouillabaisse. Oberhalb des Hafens gilt das Chez Michel als eines der besten Restaurants für Fisch in der Region. Viele Einheimische, vor allem dann, wenn Sie die Lust auf Meeresfrüchte und Austern überkommt, strömen in das Restaurant Toinou – Les Fruits de Mer. Es befindet sich, einen kurzen Spaziergang vom Vieux Port entfernt, in der Cours Saint Luis 3, und ist gut und gerne als Eldorado für Meeresfrüchtefans zu bezeichnen. Eine Riesenauswahl an Austernsorten, Muscheln, Krustentieren und exotischem Meeresgetier wie „Le Violet“ finden sich zu echten Schnäppchenpreisen.
Marseille nur als Durchreisestation zu nutzen wäre schade. Viel zu viel wird geboten. Es empfiehlt sich zu nächtigen. Das New Hotel of Marseille stellt eine ideale Möglichkeit dar (71 bd Charles Livon; new-hotel.com). Es liegt am Pharo, einem Hügel oberhalb der Bucht vor dem Vieux Port. Auf ihm befindet sich auch die ehemalige kaiserliche Residenz von Napoleon III., das Palais du Pharo. Die Aussicht über die Stadt ist an diesem Ort genial, und eröffnet laut Insidern die „beste Gelegenheit den Sonnenuntergang zu genießen“. Das hippe Hotel beglückt seine Gästen mit toller Lage, Swimmingpool und jeder Menge Kunst, denn das gesamte Gebäude wurde mit Werken von Gegenwartskünstlern aus Marseille ausgestattet. Cool, urban und angesagt.
Ein Tipp für Kunst- und Kulturinteressierte: CaP.CULT, eine Agentur für Kunst-, Kultur- und Kulturhauptstadtvermittlung unter der Leitung von den zwei Österreicherinnen Pia Leydolt und Carina Kurta mit Sitz in Marseille bietet spannende Führungen durch die Stadt an. (www.capcult.org)
Cassis – das Lieblingsausflugsziel der Marseiller
Eines der liebsten Ausflugsziele der Bewohner von Marseille ist das ca. 30 km entfernte Fischerdorf Cassis. Es liegt an der Calanque – Küste. Calanques sind steilwändige Küsteneinschnitte – einfach gesprochen: wildromantische Felsbuchten, die oft fjordartig tief ins Land hineinragen. „Les Calanques“ sind zugleich ein Naturschutzgebiet mit exotischen Pflanzen und bemerkenswert vielen Vogelarten. Besonders eindrucksvoll ist es die Buchten mit dem Boot zu erkunden, oder auf einer der Wanderrouten wie jener von Cassis nach Le Ciodat, hoch oben am Kamm des Canyons. Einst lebte Cassis vom Fischfang, heute ist der Tourismus der stärkste Wirtschaftszweig – kein Wunder auch, denn der kleine idyllische Hafen übt magnetische Anziehungskraft aus. Man sitzt in einem der gemütlichen Restaurants oder einem Cafe, und frönt dem süßen Nichtstun. Zum Beispiel bei Monsieur Brun (2 Quai Calendal, 13260 Cassis), einer Mischung aus Austernbar und Cafe. Womöglich bei einem Glas Wein (Cassis ist eine eigene, kleine aber feine Weinbauregion) und einem Teller mit Seeigeln. Das Leben kann so schön sein, wenn man in den Wintermonaten mit etwas Glück in Südfrankreich gelandet ist.
Text: Stefan Zavernik